Interview with me in the FAZ (in German)

Last Saturday, on January 2010, the German newspaper Frankfurter Allgemeine Zeitung published an interview with me by Thomas Poell. I had completely forgotten about it because it happened late August in Amsterdam when I just got back from the European summer holidays. In retrospect it reads like a summer story. I am optimistic about the power of critical concepts and the internet in general, despite the rise in corporate control (Google) and the ever greater controle of nation states. Sorry for those who do not read German (yet). It’s my prefered theory language!

Im Gespräch: Geert Lovink

Wem läuft die Netzavantgarde nach, Herr Lovink?

Internetaktivist der frühen Stunde: Geert Lovink vor dem Hafen von Amsterdam

Seit ihrem Entstehen hat Geert Lovink die Utopien, die der Entwicklung des Internets den Weg weisen sollten, verfolgt und mitzugestalten versucht – als Aktivist, Organisator von Medienfestivals und schließlich als Wissenschaftler.

Herr Lovink, Sie haben die These aufgestellt, dass die Vermassung des Internets zu einer Situation grundlegender Desorientierung geführt habe. Es gebe im Internet kein gemeinsames Ziel mehr, jeder gehe seiner eigenen Wege. Ein Jahrzehnt nach ihrem Auftauchen und ihrer rapiden Ausbreitung sei die Internetkultur zwischen widerstrebenden Kräften zerrissen. Wer darf sich heute zur Netzavantgarde berufen fühlen?

Geert Lovink: Ich würde gerne sehen, dass es so etwas wie eine Netzavantgarde überhaupt gibt. Anfang der Neunziger konnte man vielleicht von einer solchen Bewegung sprechen. Da gab es Leute, die verstanden hatten, was für einen überwältigenden Einfluss das Internet auf die Gesellschaft haben würde.

Das dürfte heute keine besonders originelle Ansicht mehr sein.

Ja, aber wenige der Ideen, die damals entstanden sind, haben sich wirklich durchgesetzt. Einer der zentralen Gedanken der damaligen Zeit war die Veränderbarkeit der Identität. Die Internetkultur ist jedoch in eine völlig andere Richtung gegangen. Es geht heute im Netz um eine völlig einfache und konservative Form der Selbstdarstellung. Es ist so, als ob man sich ständig irgendwo bewerben würde. Das war so nicht gedacht. Man wollte damit viel spielerischer und kreativer umgehen.

Die Möglichkeit ist doch noch vorhanden.

Ja, aber sie wird nur von wenigen genutzt. Die sozialen Netze, die in den letzten Jahren aufgebaut worden sind, sehen in der Virtualität eine reine Kopie der realen Welt. Die Benutzer finden das prima. Das Netz ist eine Tragödie der Selbstrepräsentation.

Es gibt doch zahllose Plattformen, auf denen virtuelle Identitäten gepflegt werden können.

Ja, aber das Problem ist, dass die Anonymität dort überschätzt wird. Alles wird inzwischen überwacht, Suchmaschinen sammeln unzählige Daten, man weiß sehr viel über die Nutzer. Viele Scheinidentitäten fliegen daher sehr schnell auf. Der Traum, im Internet ein anderer sein zu können, ist damit passé. Die Identität der Benutzer ist fast völlig transparent geworden.

Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Der wichtigste Faktor, der das freie Variieren der Identität verhindert hat, war der E-Commerce und seine „Trust“-Parole. Es ist eben aus wirtschaftlicher Sicht nicht vorteilhaft, nicht zu wissen, mit wem man seine Geschäfte treibt. Das hat auf die sozialen Netzwerke abgefärbt. In der Vergangenheit war das Internet ein öffentlicher Raum. Auf Plattformen wie Facebook kann es soziale Abweichung hingegen nicht mehr geben. Der zweite Grund ist der Einfluss der Nationalstaaten, der sich in den letzten Jahren ständig ausgeweitet hat und die Gefahr breitflächiger Überwachung bringt. Die Zäsur war hier der 11. September 2001. Inzwischen sind überall „National Webs“ im Aufbau.

Aber das Internet macht es doch einfach, nationale Rechtsprechungen zu umgehen.

Das stimmt. Aber man muss erst einmal in der Lage dazu sein und über die entsprechenden technischen Kenntnisse verfügen. Das Problem ist, dass nicht jeder ein Programmierer ist und die Technik in den Griff bekommt.

Mithalten oder gegensteuern kann nur der, der in ständiger Fortbildung an der Spitze des informationstechnischen Fortschritts steht.

So ist es. Tut man das nicht, wird man zum unmündigen Konsumenten; zum Opfer, das nicht über die Folgen seines Tuns Bescheid weiß. Die Computer werden immer einfacher zu benutzen sein. Das fördert die Illusion, souverän mit dem Medium umzugehen. Vor Jahren konnte man diese Illusion nicht haben. Jetzt kann man das Medium gedankenlos nutzen.

Sie sagen, dass es im Internet eine große Zerstreuung gebe. Es gibt aber auch Schlagwörter wie Kampf gegen Überwachung und Zensur oder Open Access, die jederzeit Gruppenbildung ermöglichen. Es gibt doch Leute, die mit dem Internet mehr als Benutzerinteressen verbinden.

Aber nur ansatzweise. Bemessen an der Größe, die das Phänomen inzwischen erreicht hat, ist das eine verschwindende Größe. Wir müssen bedenken, dass das Internet in den westlichen Staaten inzwischen von der Mehrzahl der Leute genutzt wird. Erst in den letzten Jahren haben wir diesen gewaltigen Sprung gemacht. Man muss sich erinnern, dass Habermas das Internet vor ein paar Jahren noch ein Zusatzmedium genannt hat. Da dachten noch viele, das geht vorbei.

Was sind die Folgen der Vermassung?

Es gibt Abschließungstendenzen und eine Krise in der Expertise.

Mit dem Anwachsen der Nutzerzahl sinkt auch der Einfluss der frühen Wortführer. Es ist nicht mehr so einfach, sich an die Spitze der Netzentwicklung zu stellen und die Richtung bestimmen zu wollen. Wer kann in dieser Situation denn überhaupt noch die Deutungshoheit beanspruchen?

Leute, die sich als Vorsprecher des Internets ausgeben, findet man fast nur im Informatikerbereich und in der Geek-Kultur. Dort hat man das Bedürfnis, Gurus aufzubauen. Die Benutzerkultur hat kein Interesse an solchen Vorbildfiguren oder Avantgarden.

Es gibt in Deutschland Leute, die man durchaus als Netzavantgarde bezeichnet, etwa die digitale Boheme in Berlin.

Das sind Nachzügler, die erst sehr spät auf den Zug aufgesprungen sind. Die waren in den Neunzigern, als sich das Netz formierte, nicht dabei. Man kann auch von einem Marketingphänomen sprechen.

Die Netzavantgarde, wenn man sie trotzdem so nennen will, sammelt sich um politisch-soziale Leitbegriffe. Warum hat sich im Internet nie eine ästhetische Avantgarde etabliert?

Die frühe Netzideologie trieben Technik- und Naturwissenschaftler voran, teilweise vermischt mit der Hippie-Kultur der siebziger und frühen achtziger Jahre. Es waren in der Hauptsache Akademiker und Programmentwickler, die das Internet aufgebaut haben. Die akademische Richtung hatte nie große ästhetische Vorstellungen. Es war Code, und es blieb Code bis Mitte der Neunziger. Erst als das Medium von der Unternehmenskultur schon übernommen worden war, kamen die technischen Möglichkeiten, es ästhetisch fortzuentwickeln. Eigentlich hätte dieser Prozess komplett umgekehrt verlaufen müssen. Erst die Avantgarde und dann die unternehmerische Umsetzung.

Die Avantgarde läuft hinterher?

Das Problem ist immer, dass die Techniker vorausgehen, dann kommen die Unternehmer und die Denker zuletzt. Warum stehen die am Ende einer Entwicklung, wenn achtzig Prozent der Leute das Internet schon benutzen?

Welchen Einfluss hat die Neue-Medien-Kunst auf diesen Prozess?

Die Netzkunst hat sich eine Zeitlang sehr wohl als Avantgarde verstanden, so in den Jahren von 1995 bis 1997. Das war eine interessante Zeit. Die Künstler haben jedoch keine Verbindung zum Dotcom-Markt und auch nicht zum Kunstmarkt aufbauen können. Für den Kunstmarkt waren ihre Arbeiten zu technisch, für Unternehmen wiederum zu spielerisch und zu wenig kommerziell. Die Neue-Medien-Kunst ist so in ein Vakuum geraten. Sie wird vom Kunstmarkt nicht anerkannt.

Hans Magnus Enzensberger hat der Avantgarde einmal vorgeworfen, sie sei zu stark am Vorbild der Naturwissenschaften orientiert, von denen sie in Wirklichkeit wenig verstünde. Gilt das in besonderem Maß für die Netzkunst?

Die Künstler lehnen sich sehr stark an den Naturwissenschaften an, ohne sie zu verstehen. Die Naturwissenschaftler sind dagegen überhaupt nicht an diesem Dialog interessiert. Es ist eine einseitige Liebe. Die Künstler stehen unter dem diffusen Druck, diesen Dialog führen zu müssen, und fühlen sich dabei ständig unterlegen. Das ist ein Problem, denn so kann ihre Kunst keinen kritischen Impuls entfalten, etwa naturwissenschaftliche Anschauungen hinterfragen. Aber der Künstler hat nicht die Chance, das zu tun. Die Machtverhältnisse sind viel zu ungleich. Er ist Außenseiter. Gleichzeitig ist er sehr stark von der Technik abhängig. Alle guten Netzkünstler müssen gute Programmierfähigkeiten haben. Die wenigsten haben sie tatsächlich. Darüber wird aber nicht diskutiert, weil es peinlich ist.

Wie kommt es, dass viele Künstler ihre Kunstwerke auch nicht ins Netz stellen wollen?

Vielleicht ist es das Problem einer Übergangszeit. Es gibt dort kaum Verdienstmöglichkeiten. Andererseits herrscht das Denken: Wenn du im Netz deine Reputation aufbaust, kannst du dein Geld anderswo verdienen.

Aber wo und womit?

Es gibt da keine durchdachten Modelle. Ich glaube nicht an dieses Reputationsmodell auf der Grundlage von Kostenfreiheit. Aber es ist die herrschende Idee.

Die Konsequenz wäre, dass man einem permanenten Reputationskampf ausgesetzt wäre. Imagepflege wäre eine tagfüllende Tätigkeit.

Und eine Überlebensfrage. Es gibt immer einige wenige, die für kurze Zeit an die Spitze geraten, aber nicht lange dort bleiben. Niemand übersieht die Auswirkung der Kostenloskultur. Wir müssen dieser Entwicklung entgegenwirken. Wir müssen Modelle fördern, die es einem Journalisten ermöglichen, über Monate hinweg an einem Thema zu arbeiten. Diese essentielle Arbeit darf nicht wegfallen. In dem neuen Modell ist dafür kein Platz. Der Journalist wird hier zum Datenverarbeiter. Was dazu führt, dass Nachrichten immer mehr von Bewusstseinsmanagern und PR-Agenturen hergestellt werden.

Ist das der Grund für den digitalen Nihilismus, den Sie diagnostiziert haben?

Ich verwende den Begriff nicht in der Semantik des neunzehnten Jahrhunderts, also in dem Sinn, dass Gott tot ist und alle obersten Werte hinfällig geworden sind. Nihilismus heißt für mich der Umstand, dass Medien das Massenbewusstsein nicht mehr lenken können. Es heißt auch, dass die Leute nicht mehr an die Medien glauben. Sie wollen die Mediennutzung in die eigene Hand nehmen. Die Möglichkeiten zu reagieren werden immer größer.

Das klingt ehrlich gesagt nicht sehr nihilistisch.

Für mich ist die Medientheorie immer mit dem Gedanken einer Gegenöffentlichkeit, dem Kampf um die Netzarchitektur verbunden gewesen. Ich bin auf der Seite derer, die das Netz sozialpolitisch mitgestalten. Das ist nach wie vor ein offenes Feld, auch für Leute, die nicht technisch oder kommerziell sind. Man kann hier als Einzelner, als kleine Gruppe noch etwas verändern, trotz der Dominanz mächtiger Korporationen wie Microsoft und Google. Das mag naiv sein, aber daran glaube ich, und diese Erfahrung mache ich täglich.

Worauf gründen Sie Ihren Optimismus?

Das große Beispiel dafür ist die freie Software. Die Ideen der Freie-Software-Bewegung sind ausgewuchert in andere Bereiche, ins Musikgeschäft, in die Wissenschaft. Langsam ist das eine ganz breite kulturelle Bewegung. Sie hinterfragt grundlegend Machtstrukturen und ist nicht mehr marginal. Das hätte man vor fünf oder zehn Jahren noch sagen können.

Was wäre Ihre Vorstellung einer positiven Entwicklung des Netzes?

Eine solche positive Entwicklung wäre für mich die Fragmentierung der großen sozialen Netzwerke. Es sollen sich nicht mehr Hunderte von Millionen auf wenigen Websites bewegen, sondern auf vielen, Abertausenden. Das Social Networking soll von einer Fähigkeit zu einer Tätigkeit werden.

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-Geert Lovink wird 1959 in Amsterdam geboren. Er studiert Politikwissenschaft in Amsterdam und Melbourne.

-Seit Beginn der achtziger Jahre ist der ehemalige Ökoaktivist und Hausbesetzer in zahlreichen Festivals und Projekten im Bereich der Neuen Medien engagiert. Sein Interesse gilt den taktischen Medien, die darauf abzielen, über neue Technologien kurzfristig und unvorhergesehen Gegenöffentlichkeiten zu organisieren.

-2004 wird er Professor an der Hogeschool van Amsterdam, wo er ein eigenes Institut für kritische Netztheorie, das Institute for Network Cultures, gründet.

-Seine letzten Bücher „Dark Fiber“ (2002), „Uncanny Networks“ (2002), „My First Recession“ (2003) und „Zero Comments“ (2007) beschäftigen sich kritisch mit der Entwicklung der Netzkultur.

Das Gespräch führte Thomas Thiel.

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