Theorie der elektronischen Anwesenheit

Internet-Zeit
oder: >>Theorie der elektronischen Anwesenheit.<<

[ ] E-Glosse: Geert Lovink [1], Direktor [2]
Published in Berliner Gazette, March 6, 2007
Aus dem Internet heraus betrachtet erscheint es banal, sich ueber die Gefahr eines
globalen Zeitregimes den Kopf zu zerbrechen. Das Internet ist fuer die Ewigkeit:
wollen wir seine Architektur verstehen, muessen wir es fuer uns nutzbar machen –
eher als uns ihm unterzuordnen. Ohne Wissen kann man nichts ablehnen. Der Philosoph
Paul Virilio hatte Recht, als er schrieb, dass wir nicht laenger in einer lokalen
Zeitrechnung leben, wie in der Vergangenheit, als wir Gefangene der Geschichte
waren. Wir leben in einer globalen Zeit. Wir befinden uns in einer Epoche, die einem
globalen Unfall gleich kommt, so Virilio.

So sagte er einmal: >Ich erfahre Gleichzeitigkeit und ihre Zwaenge, die
Unmittelbarkeit und Allgegenwaertigkeit der Informationsflut als eine
Informationsbombe, die im Zuge der technologischen Entwicklung und Durchbrueche auf
dem Feld der Telekommunikation jeden Moment droht zu explodieren.< Der
Kulturwissenschaftler Stefan Heidenreich wiederum konstatierte ein andermal in der
Berliner Gazette, das Internet sei eine zeitlose Sphaere. Ein gutes Beispiel dafuer
sind Google-Suchergebnisse – denn es ist nicht ersichtlich, wann Dokumente ins Netz
gestellt wurden. Heidenreich sagte daher eine Entwicklung in Richtung eines
zeitsensiblenVirilo
begreift Cyberspace als eine andere Sphaere. Eine Sphaere ohne Raum-Zeit
Koordinaten, ohne Orientierung und Erfahrungshorizont. Eine Sphaere, in der
Kommunikation und Interaktion gleichzeitig in einem neuen zeitlichen Rahmen
stattfinden und alte Raum- und Zeitbegriffe hinter sich lassen. Es ist eine Sphaere,
losgeloest von allen Koordinaten, in der man das Gleichgewicht des eigenen
Koerpers, der Natur und der sozialen Umgebung verliert. Fuer Virilo ist es also eine
entmaterialisierter und abstrakter Rueckzugsort, in dem sich Cybernauten im Raum
verlieren koennen – losgeloest von ihren Koerpern und der sozialen Welt.dass der Rhythmus des technologischen Wandels
sehr viel schneller ist, als der der geistigen Entwicklung. Die Verbreitung des
Cyberspace ist damit ungleich schneller, als die Faehigkeit des menschlichen
Gehirns, sich an die veraenderten Gegebenheiten der Cyberzeit anzupassen. Wir
koennen den Zeitraum ausdehnen, in dem ein Organismus Informationen ausgesetzt ist,
aber die Erfahrung ist nicht ueber eine bestimmte Grenze hinaus dehnbar.
Beschleunigung bewirkt eine Verarmung an Erfahrung, fuer den Fall, dass wir einer
wachsenden Zahl von Stimuli ausgesetzt sind, die schwer verarbeitbar sind im
intensiven Modus von Freude und Wissen.in einen kuenstlichen Zustand, der zu Geld gemacht werden kann. Zeit
ist ein rares Gut, Zeit ist Geld. Zeit, eine nicht wegzudenkende Dimension der Lust,
zerfaellt zu Fragmenten, die nicht laenger genossen werden koennen.<

Statt sich nun in diesen Abwaertsspiralen zu verlieren, schlage ich ganz einfach
vor, diesen Weg nicht zu beschreiten – eine regelrechte Kunst. Wir haben alle die
Erfahrung gemacht, uns in den Weiten des Netzes zu verlieren: in Anwendungen auf
unseren Bildschirmen, Suchmaschinen, die zu keinem Ergebnis fuehren, aufgrund von
E-Mails von Freunden, die in Spamfiltern haengen geblieben sind und ueber tote Links
zu nicht mehr existierenden Websites und verwaisten Blogs.

Statt konservativer Argumente fuer einen Niedergang der Zivilisation in Folge der
neuen Medien anzufuehren, lehrt uns unsere eigene Vorstellungskraft, wie wir die
verlorene Zeit in eine nie versiegende Quelle der Einfaelle und der Subversion
umwandeln koennen.

1. mailto:geert@xs4all.nl
2. http://www.networkcultures.org
3. https://www.networkcultures.org/geert
4.
http://www.berlinergazette.de/?pagePos=12&id_text=29817&id_language=1&bereich=&aktiv=
5. http://it.wikipedia.org/wiki/Franco_Berardi