Timosophie Ğber HergÈ und die Alpha-Kunst Von Bilwet/Adilkno/Agentur Bilwet Das Album "Tim und die Alphakunst" erschien 1987, vier Jahre nach dem Tod von HergÈ. Es wurde nie fertig und endet abrupt. Die Skizzen gehen nur bis Seite 42, w”hrend alle Tim und Struppis 62 Seiten haben. Die Erz”hlung beginnt mit einem Alptraum von Kapit”n Haddock. Castafiore steht neben seinem Bett mit einer Flasche Whiskey in der Hand, deren Etikett ein Totenkopf ziert. Pl–tzlich ver”ndert sie sich in einen Greif, halb Hahn, halb Specht, und beginnt mit ihrem Schnabel auf den Kapit”n einzuhacken. Tim, der auf dem Schloş zu Gast ist, eilt herbei und beruhigt den Kapit”n. Dann klingelt das Telefon und Castafiore meldet sich - der Alptraum erweist sich als Vorhersagung. Sie k¸ndigt ihre Ankunft an. Von diesem Moment an entfaltet sich das Schicksal. Um ihr zu entkommen, fl¸chtet Haddock in eine stark besuchte Galerie f¸r moderne Kunst, wo gerade eine "ungew–hnlich spannende Ausstellung" ¸ber "Alfa-Kunst" stattfindet. Er wird von einem K¸nstler namens Ramo Nash angesprochen, ein kleiner Mann mit langen Haaren, einem Schal und einem dicken Pullover. Der stellt ihn Herrn Fourcart vor, dem Direktor der Galerie, der wie ein Gesch”ftsmann aussieht. Dann geschieht das Unvermeidliche, die Castafiore tritt ein: "Kapit”t Kapstock!... Sie hier!... Wie sch–n!... Sie interessieren sich also f¸r die Alfa-Kunst... Das h”tte ich nie gedacht... daş ein einfacher, ungebildeter Fischer in den Bann der Kunst geraten kann, das ist ein Wunder!..." Und wendet sich daraufhin Nash zu: "Das beweist, daş Ihre Kunst, die so einfach, aber gleichzeitig so reich, so verfeinert und gleichermaşen so elementar ist, jeden erreichen kann..." Und sie salbadert begeistert weiter: "Es ist die Kunst dieser Zeit. Sie f¸hrt uns zur¸ck zum Ursprung, das Rad, das Feuer, das hartgekochte Ei... und all das! Genial, mein bester Ramo, genial!" Ramo Nash erweist sich als geschickter Verk”ufer und schw”tzt dem Kapit”n nach dem n–tigen Palaver einen groşen Plexiglasbuchstaben, H, auf. "So eine Chance bekommen Sie wahrscheinlich nie mehr..." Haddock zeigt Tim seine neue Erwerbung. Der ist dar¸ber verwundert, daş sich der Kapit”n f¸r Kunst interessiert. Dann sagt Haddock: "Das ist Alfa-Kunst, das H von Haddock, verstehst du?" Die gesamte Tim-und-Struppi-Truppe zieht vorbei, um sich ungl”ubig ¸ber das Werk des ber¸hmten jamaikanischen K¸nstlers zu beugen, von Professor Bienlein ¸ber Schulze und Schultze und Nestor bis hin zum einf”ltigen Kiesewetter. Immer wieder muş Haddock das Motto der modernen Kunst erkl”ren: "Kunstwerke dienen zu nichts!... Absolut zu nichts! Das kann man doch sofort sehen! Kunst ist Kunst! Als ich es sah, ging ich gleich auf die Knie..." Am folgenden Morgen stellt sich heraus, daş der Galerist Fourcart unter verd”chtigen Umst”nden ums Leben gekommen ist. Er ist schon der zweite aus der Kunstwelt, der in kurzer Zeit auf mysteri–se Weise ums Leben kam. Jaques Monastir, der bekannte Kunstexperte, verschwand w”hrend eines Segelurlaubs. Diesmal ist das Auto von Fourcart von der Straşe abgekommen und in eine Schlucht gest¸rzt. Als Tim, neugierig wie er ist, Ermittlungen anstellt, wird er von einem schnellen Wagen verfolgt, der ihn von der Straşe abzudr”ngen versucht. Das mişgl¸ckt, weil die Verfolger mit einem Frachtwagen zusammenstoşen, wonach sie weglaufen. Tim ist ¸berzeugt, daş sie die Absicht hatten, ihn zu t–ten, und kehrt zum Schloş M¸hlenhof, dem Heim Kapit”n Haddocks, zur¸ck. Von diesem Moment an wird deutlich, daş Tim in einen internationalen Kunstkomplott geraten ist. In dieser Kunstszene tritt auch der ber¸hmte Magier Endaddine Akass auf. Castafiore hatte schon fr¸her von ihm erz”hlt: "Der fantastischste Zauberer, den ich kenne... er braucht nur einaml seine Hand auf einen zu legen und man ist f¸r ein Jahr magnetisiert. Genial." Der Guru tr”gt einen Bart, ein flaches H¸tchen, eine groşe Brille und einen geometrischen Alfa-Schmuck, den man gut f¸r einen okkulten tibetischen oder arischen Talisman halten k–nnte. Auch Akass ist Bewunderer der Alfa-Kunst. Tim beschlieşt, seinen Vortrag ¸ber das Thema "Gesundheit und Magnetismus" zu besuchen. Der Abend atmet eine spirituelle Sph”re, in der sich alles um Energie dreht. Endaddine: "OM! OM! OM! Nun bin ich mit aller Energie des Universums geladen. Ich werden sie auf Sie ¸bertragen." Die Menschen kommen nach vorne, um sich die Hand auflegen zu lassen. Um die Verbindung zwischen New Age und dem Kunsthandel n”her zu untersuchen, beschlieşen Tim und Haddock auf eine Insel bei Neapel zu reisen, wo die Akass-Sekte sich niedergelassen hat. Dort stoşen sie auf die Diva Castafiore, die bei dem Magier zu Gast ist und die beiden ¸berredet, dessen Gastfreiheit anzunehmen. In einer Nacht macht Tim die Entdeckung, daş in dem kolossalen Haus an F”lschungen groşer Meister gearbeitet wird. Tim: "Oh, ein Modigliani! Die Farbe ist noch naş!... Und hier, ein LÈger... ein Renoir... ein Picasso... ein Gauguin... ein Monet... Alle gef”lscht! Das ist ein Unternehmen, das perfekte F”lschungen herstellt!" Zudem stellt sich heraus, daş Endaddine Akass der Kopf hinter dem Kunstschwindel ist. Akass gesteht Tim, daş der Alfa-K¸nstler Ramo Nash der F”lscher ist: "Die Alfa-Kunst ist sein letzter Einfall, unter deren Deckmantel kann er in aller Ruhe Meisterwerke herstellen. Er beherrscht die Kunst der Imitation zur Perfektion. Nat¸rlich werden diese Gem”lde von einem bekannten Experten beglaubigt. Der arme Fourcart wollte nicht auf unsere Vorschl”ge eingehen." Tim: "Sie haben ihn aus dem Weg ger”umt!" Endaddine: "Ich muşte wohl! Und was Sie betrifft, junger Mann, es tut mir sehr leid, aber Sie wissen viel zu viel. Nun, wir werden jetzt fl¸ssiges Polyester ¸ber Sie gieşen. Seien Sie froh: Ihre Leiche wird in ein Museum gestellt werden. Und kein Mensch wird je auf die Idee kommen, daş dieses Werk, das wir "Reporter" nennen k–nnen, der letzte Aufenthaltsort von unserem Tim ist. Denken Sie mal dar¸ber nach, mein Freund..." An diesem Punkt bricht die Erz”hlung von HergÈ ab. Nachdem er die Nacht in einer Zelle zugebracht hat, wird Tim roh von den Leibw”chtern geweckt, die ihn im Schuşfeld halten und ihn zum Atelier bringen, wo er in Polyester gegossen werden soll... Es wird kolportiert, daş HergÈ acht Jahre an der "Alfa-Kunst" get¸ftelt hat, ohne einen Plot zu entwickeln. Es ist schlieşlich ein Kampf mit der Frage geworden, was Tim mit Kunst zu tun hat. HergÈ wurde zeit seines Lebens nie als (moderner) K¸nstler angesehen. Die Kunstkritik jener Tage war noch nicht soweit, den Comic Strip als Kunstform anzuerkennen. Das Aufkommen der Pop-Art bewirkte hier Ver”nderung, aber das kam f¸r HergÈ zu sp”t. Tim war dazu verdammt, in der Sh”re der Massenkultur zu bleiben. Die Br¸cke zur Kunst konnte HergÈ nur als Kunstsammler und Kunstkenner schlagen. In "Tim und die Picaros" steht eine Plastik von Marcel Arnould und in "Kohle an Bord" ein Gem”lde von Alfred Sisley. Ansonsten blieb es ein Hobby, wor¸ber Harry Thompson in seiner Doppelbiographie folgendes bemerkt: "Er konnte es sich leisten, die kostbarsten Kunstgegenst”nde zu kaufen. Obwohl er kurzfristig mit dem Expressionismus geflirtet hatte, schaffte er haupts”chlich Bilder an, die Èhnlichkeiten mit seiner eigenen Klaren Linie hatten, so wie die von Warhol, Lichtenstein, Noland, Fontana, Leger, Hockney und Giacometti. Seine Wohnung glich deutlich einer Kunstgalerie. Er war ohne Zweifel einer der wichtigsten Sammler seiner Zeit." Andy Warhol machte sogar ein Portr”t von HergÈ in seiner ber¸hmten Siebdruck-Portr”t-Galerie. "Tim und die Alfa-Kunst" erlaubt einen kleinen Einblick in die ambivalente Haltung, die HergÈ gegen¸ber der modernen Kunst seiner Zeit einnahm. Einerseits zeigt sich hier die Abneigung gegen die Kunstmafia. Moderne Kunst wird als Deckmantel f¸r kriminelle Praktiken benutzt, wie F”lscherei, Attentate, Morde und Wucherei. Das unwissende Publikum l”şt es sich bieten und macht begeistert mit. Es braucht jemanden wie Tim, um die Gefahr zu wittern und die fatale Verbindung der New Age-Sekte mit dem Galeriewesen ergr¸nden zu k–nnen. Das groşe Geld, die Spiritualit”t und die moderne Kunst sind eine geheimnisvolle, elit”re Verbindung eingegangen. Tim will es einfach nicht glauben, daş "Kunst zu gar nichts nutzt" und vermutet, daş mehr dahinter steckt. Andererseits endet Tims Leben tats”chlich sehr tragisch... als Museumsst¸ck. Ob es den Tim-Fans nun gef”llt oder nicht, der Meister hat es so gewollt: Tim wird mit fl¸ssigem Polyester ¸bergossen. "Danach wird das Werk an ein Museum oder einen reichen Sammler verkauft... Seien Sie froh: Ihre Leiche wird in einem Museum stehen," so Endaddine. Und das ist mit dem Album "Tim und die Alfa-Kunst" tats”chlich geschehen. Nicht nur sind die Zeichnungen kunstsinnig mit Design ausgestattet, sondern der Klappentext verspricht auch, daş "der neugierige Leser beim aufmerksamen Studium das Z–gern und die Korrekturen nachempfinden kann, um so in die intime Welt eines der gr–şten K¸nstler dieser Zeit einzudringen." Und so bekommen die fl¸chtigen Skizzen von HergÈ den Status eines Leonardo oder eines Rembrandt. Im Katalog der Wanderausstellung "Het imaginair museum van Kuifje" (1980), die HergÈ selbst noch erleben durfte, wird noch starker Nachdruck auf den Realismus gelegt. Das imagin”re Museum ist in der Tat eine reiche Sammlung ethnographischer Rarit”ten, in denen kein Verweis auf die moderne Kunst zu finden ist. "Tim in Barcelona", die Ausstellung ein Jahr nach seinem Tod, hat Tim als Archetypus v–llig in die verschiedensten Str–mungen der modernen Kunst aufgenommen. Das Bilderbuch "Nous, Tintin" von 1987, mit einem Umschlagentwurf von Keith Haring, festigte die Umumkehrbarkeit dieses Trends. HergÈ hat das mythologische Material f¸r das 20.Jahrhundert geliefert, hatte einen eigenen Stil, blieb aber nichtdestotrotz auşerhalb des Kunstdiskurses. HergÈ ist das Medium, das die Daten f¸r die Kunstproduktion liefert; das Medium ist selbst keine Kunst. Medium f¸r andere zu sein, ist ein eintr”gliches Unternehmen, das auf Kosten der eigenen k¸nstlerischen Ambitionen geht. Anders als die Kunst hat das Medium keinen Ewigkeitsanspruch. Es ist nicht mehr als eine Durchreiche der Energie aus dem Universum. In "Tim und die Alfa-Kunst" wird die Meinung des Groşen Publikums ¸ber die heutige Kunst sachkundig wiedergegeben. Die Spekulationsgesch”fte mit abstrakter, konzeptueller Kunst in den siebziger Jahren, noch vor Aufkommen des Postmodernismus, rief eine ideologische Reaktion der klassischen Modernisten hervor, zu denen wir auch HergÈ rechnen k–nnen. Dennoch ist er kein Auşenstehender in der Kunstwelt. Es l”uft darauf hinaus, daş seine konservativ- reaktion”re Haltung zur neuen Kunst daf¸r sorgte, daş seine eigene Kunstsammlung nicht zur Diskussion stand. Nicht viel sp”ter sehen wir seine eigenen Konzepte (als work in progress) zur Kunst erhoben. Bob de Moor durfte das Album nicht fertig zeichnen. Die Alfa-Kunst muşte, koste es was es wolle, Gekritzel bleiben. Alles was HergÈ hervorgebracht hat, hat inzwischen Kultstatus erreicht, und das Studio HergÈ hat sich darauf verlegt, die Copyrights zu sichern und Merchandising anzubieten. Die Klare Linie ist eine Offensive gegen die wertlose neue Kunst, der man den Vorwurf macht, lediglich Schmutz auszustrahlen. Tim steht Modell f¸r einen Allesreiniger, der eine Obsession f¸r den Schmutz hat, der entfernt werden muş. Er projiziert die eigene unbewuşte Schmutzigheit auf die Auşenwelt, damit die Welt klare Konturen behalten kann. Die Klare Linie ist die k¸nstlerische Èuşerung einer kleinb¸rgerlichen Zwangsneurose. Die Timosophie dagegen macht sich zur Aufgabe, die Ikone Tim von ihrer psycho-historischen Basis loszul–sen. Das gelingt allein dadurch, daş die herrschenden Verh”ltnisse der Comic Strip-Welt und der Welt als Comic Strip aufgedeckt werden. In "Tim in Barcelona" finden wir einen ersten Ansatz zum Timosophischen Projekt, in dem Ever Meulen aus Br¸ssel im Stil von Joost Swaarte aus dem Munde Tims aufzeichnet: "Der Tod des armen Herrn HergÈ scheint mir verd”chtig... dar¸ber will ich Genaueres wissen!..." Gr¸belnd l”uft er im Regen auf der Straşe, Struppi neben sich. "Du wirst dich doch wohl nicht schon wieder Hals ¸ber Kopf in ein neues Abenteuer st¸rzen? Ich brauche Erholung!" ist der kl”gliche Kommentar von Struppi. Das ist der Beginn: das Leben von Tim nach dem Tode HergÈs. Erst jetzt kann er tun und lassen, was er will und in alle Richtungen metamorphosieren, ohne daş ihm dabei die Br¸sseler HergÈ- Mafia im Weg steht.