Die Welt von Morgen "Alles geht vorbei, nur in die falsche Richtung." Commandante Malaria Es kann nicht jeden Tag Zukunft sein. Die Zukunft fordert nicht viel, aber wenn sie um unsere Aufmerksamkeit bittet, ist eine angemessene Haltung gefordert. In der Zukunft betreten wir eine geweihte virtuelle Sph”re, in der wir die allt”glichen Sorgen f¸r kurze Zeit beiseite legen. Der religi–se Eifer ist zuk¸nftig, anders als in der Kirche, nicht auf die Ewigkeit des Jenseits gerichtet, sondern auf einen Zeitraum zwischen minimal dreiþig und maximal hundert Jahren. Unter dreiþig Jahren ist Zukunft Politik und ¸ber hundert science fiction. Die alte Zukunft hat das menschliche Maþ der mittleren Lebenserwartung. Ist die Zukunft einmal angebrochen, betreten wir die Ewigkeit des Todes. Die Zukunft ist ein Grenzfall. Als unbekannter, unsicherer Faktor ruft sie sowohl Wunschtr”ume als auch Alptr”ume hervor. Die Zukunft umh¸llt die vorgeschobene Wissenschaft vom eigenen Todestag mit einem bemerkenswerten gesellschaftlichen Szenario, in dem die Unvermeidlichkeit des eigenen Todes eine unter vielen M–glichkeiten wird. Zukunft ist eine sakrale Weise, den Tod zum Gespr”chsthema zu machen. Die Zukunft ist auch ein rite de passage von aufbl¸henden sexuellen Gef¸hlen hin zu einer festen Beziehung. Ein Spannungsgef¸hl wird durch die Zukunft an Arbeitslust gebunden. Das vage Tr”umen des Verliebtseins muþ die feste Gestalt einer gesellschaftlichen Vision annehmen, in concreto: die Karriereplanung. Schlieþlich ist Zukunft immer eine p”dagogische Initiative, in der der Nachdruck auf Verspieltheit liegt, nicht auf Zwang. Die unbekannte Zukunft wird groþ ausgemalt, w”hrend zugleich die Sicherheitsgurte fest angezogen werden m¸ssen. Denn in der Zeit, die noch kommt, wird es Schluþ sein mit der Spielerei. Fr¸her, ach fr¸her. * Im Kinderbuch "Die Welt von Morgen" von 1970 wird den kleinen Lesern das Paradies nicht auf dem Pr”sentierteller gereicht. Fr¸her oder sp”ter wird jedem die Verantwortung f¸r die Welt aufgeb¸rdet: "Wenn Sie zur Jugend von heute geh–ren, darf das Land der Zukunft nicht nur in Ihren Gedanken existieren, sondern Sie m¸ssen auch tats”chlich daran bauen." In dem Buch wird die schulpflichtige Jugend nicht von oben herab behandelt, sondern in der H–flichkeitsform angesprochen, also f¸r voll genommen. Und das ist der Wunsch jedes Kindes. Endlich darf es anpacken und muþ sich nicht l”nger auf B¸cher beschr”nken. Die allzu bekannte Gebots- und Verbotskultur der Erziehung wird im Buch durch ein leuchtendes Bild ungeahnter M–glichkeiten verdeckt. Darum soll es gehen. Der notwendigen Disziplin steht die freie Eigeninitiative gegen¸ber: die Zukunft stimuliert, befreit, mobilisiert und l”dt zu enthusiastischer Produktion ein. Unsere Zukunft ist ein Produkt der sechziger Jahre, und nimmt schon 1970 einen Vorschuþ auf das Ende des kalten Krieges und die Gr¸ndung des globalen Dorfes. Will die Zukunft etwas werden, dann m¸ssen alle festgefahrenen Verh”ltnisse, von Iglo bis Globo, aufgebrochen werden. Die Zukunft kennt keine Probleme, sie l–st sie. Die Eltern sind noch part of the problem, die Jugend ist part of the solution. Die Destabilisierung, welche einhergeht mit der Abschaffung aller alten Tabus, beginnt und endet nicht im Chaos. Bald soll alles anders und doch stabil sein, dynamisch und vollkommen unter Kontrolle. Die Zukunft l”þt das Chaos weit hinter sich und leugnet dieses kategorisch. Unordnung ist keine unvermeidliche Ðbergangsphase oder auþerhistorische Konstante, sondern ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit. Die Eltern sind es, die in Verwirrung geraten und mit stepping-stone-Theorien ankommen. Vorfahren sind fest mit ihrer Herkunft verbunden. Sie kommen ja aus der Vergangenheit. * Das Grundelement der Zukunft ist Wasser. "Die Welt von Morgen" beginnt mit einem Kapitel mit dem Titel "Die Ozeane des Ðberflusses". Kommenende Generationen werden ins Wasser gehen m¸ssen, um dort "zu wohnen, zu tauchen und Ackerbau zu treiben". Die Welt von Morgen ist eine "faszinierende Welt": "Wir sehen sacht gl”nzende T¸rme, Tunnel quer unter dem Ozean, fruchtbare Ÿcker, Fabriken, die dem Meer die ¸berfl¸ssige Nahrung entziehen, ein garantiertes Jahreseinkommen von DM 40.000,-. Ferien sind sehr beliebt. Niemand benutzt noch echtes Geld. H”user k–nnen auf dem Meeresgrund gebaut werden. Der Fernsehbildschirm sendet in 3-D und Farbe. Die elektronische Wand stellt Verbindungen her, der Hauscomputer sorgt daf¸r, daþ die Roboter die Hausarbeit ordentlich machen. Es gibt G”rten, in denen k¸nstliche Nahrung gez¸chtet wird. Die Menschen ver”ndern ihr Erbgut und vergr–þern ihre Lebensspanne bis auf vielleicht 125 Jahre." Ist es auf den Erdschollen nicht mehr auszuhalten? Das k–nnen wir nur vermuten bei "20 Milliarden Menschen die einmal auf der Erde leben werden". "Die mit Glas ¸berkuppelten Ferienzentren werden in flachen und hellen Wassern errichtet. Sportfreunde mit 'Kiemenhelmen' und Antriebsraketen auf ihren R¸cken verlassen die Kuppelst”dte zu aufregenden Schwimmtouren." Der Traum der sechziger Jahre ist das Untertauchen im Wasser, was Kindersprache f¸r die sexuelle Revolution ist, die damals im Gange war und in der die Leser mittendrin steckten. Das Wasser ist etwas, vor dem man sich nicht f¸rchten muþ. Das Tiefsee-Dope "hat Auswirkungen auf das Nervensystem, wodurch der Taucher sich sehr gl¸cklich f¸hlt. Man spricht h”ufig vom Tiefenrausch." Der Orgasmus des nassen Traumes "l”þt den Aquanauten unmittelbare Bekanntschaft mit ihrer Majest”t der Natur machen, in einer Gestalt, die nicht ihresgleichen kennt." Das ozeanische Gef¸hl, welches hier propagiert wird, ist keine L–sung f¸r ein Problem oder ein therapeutisches Mittel, um den Menschen zu verbessern. W”hrend Freud noch eine Trockenlegung des Es anstrebte, indem es zum Ich wird, kommen die Futurologen mit einem produktiveren Vorschlag. Die Futurologen scheiden Wasser und Land (Es und Ich) resolut voneinander und f¸gen einen Transitraum dazwischen ein, in dem man die Zeit totschlagen muþ, bevor die Reise weitergehen kann. Nach der sexuellen Revolution wird Sex eingeschr”nkt auf das Element des Wassers, den Ozean, w”hrend auf dem Trockenen kein Platz und keine Zeit mehr daf¸r ist. Sex hat man in einem touristischen Ambiente. In dieser Zukunft ist nicht l”nger die Rede von einer Vermischung von unbewuþter und angewandter Energie. Die erotischen Ausschweifungen gehen auf eigene Rechnung: "Wenn sie mit ihren Unterseefahrzeugen in die Tiefe vordringen wollen, m¸ssen sie Licht mitnehmen. Auch f¸r Luft, H”user und Transportmittel m¸ssen sie selbst sorgen." Freud bastelte eine undichte Theorie zusammen. Es ging ihm um das Durchsickern. In der Zukunft dagegen gibt es nur noch abgeschlossene Sph”ren: Wasser, Erde und Luft. Jeder Container hat sein eigenes Outfit, sein eigenes Fahrzeug, seine eigenen Br”uche und seinen eigenen Bewuþtseinszustand. Die unverbindliche Vermischung von Kosmos, Erde und Unterwelt ist ausgeschlossen, selbst das Switchen ist eine langwierige Operation. * In "Die Welt von Morgen" ist k–rperliche Arbeit v–llig durch sitzende Arbeit ersetzt. Was in der Vergangenheit Arbeit genannt wurde ist in der Zukunft Gesundheit. Man bewegt sich nur noch aus Gr¸nden der Gesundheit. An Land finden die wichtigsten Aktivit”ten im Gesundheitszentrum statt. "W”hrend man auf dem Untersuchungsstuhl sitzt, messen elektronische Armlehnen und andere Instrumente den Pulsschlag, das Reaktionsverm–gen, den Herzschlag und Herzimpulse, das Atmen und andere Daten." Gesundheit ist eine Daten-Angelegenheit. In der Welt von morgen muþ alles stimmen mit der physischen Verfassung. Der konditionierte K–rper ist der zentrale Punkt auf den die Macht zugreift (wenn wir der Zukunft glauben k–nnen). Um die kleinen Leser von diesen eingreifenden Ver”nderungen zu ¸berzeugen, f¸hrt das Buch das Beispiel des K–rpers an, der unter der Kontrolle einer atomaren Groþmacht stand (w”hrend des ersten Kalten Krieges). "Hoffen wir, daþ das amerikanische Verteidigungsministerium als weltliches medizinisches Behandlungs- und Forschungszentrum genutzt werden wird, und auch alle anderen Verteidigungsministerien der ganzen Welt, damit diese Geb”ude endlich einmal eine gute Funktion bekommen und der Krieg gebannt wird." Aus Pentagon wird Medigon, und aus der Atomrakete wird "eine kleine mit Radiosendern best¸ckte Kapsel, die zu verborgenen Stellen im K–rper geschickt wird." Nicht der Polizist oder der Politiker soll ¸ber uns wachen, sondern der Arzt. "Es wird eines der Grundprinzipien der medizinischen Praxis werden, die Gesundheit des Menschen einer dauernden Kontrolle zu unterwerfen und nicht zu warten, bis die Krankheit zuschl”gt." Krankheit = Krieg. Das Gesundheitsdispositiv ist das einzige, das aus der Welt von morgen ¸brigbleibt. Es begann in den Sixties macht es noch stets Furore. Die medizinische Kontrolle ¸ber den K–rper wird weiter ausgebaut. Die Aufmerksamkeit f¸r den mentalen und physischen Stand des K–rpers darf nicht einschlafen, ebensowenig der Enthusiasmus f¸r neue Apparaturen. Dieser Anspruch ist eine absolute Wahrheit geworden und es wird nicht l”nger daran gezweifelt. Widerstand gegen das Gesundheitsdiktat der Apparate wird mit Krankheit bestraft. Ungesundes Verhalten oder Denken ist total verwerflich und f¸hrt zum Ausschluþ von Versorgung und Repr”sentation. Das Spiel mit dem Untergang, der Dekadenz, dem beschleunigtem Verfall und dem (eigenen) Tod wird weniger verboten oder bek”mpft, als seinem Schicksal ¸berlassen, als etwas, f¸r das man sich entschieden hat. Die Ungesunden haben ihr Recht auf Zukunft verspielt und sind nicht l”nger angeschlossen. Einmal abgekoppelt jedoch scheinen diese Clans jung und vital zu sein. Die ersten Raumfahrer der sechziger Jahre standen Modell f¸r diese perfekte medizinische Verfassung, die durch die Kontrolle m–glich wird. Die Astronauten waren Pioniere, die ihre Mission vollbrachten (im Namen der Zukunft), indem sie den Ursprung des Menschen verk¸ndeten. Dem K–rper wurde ein neuer Ursprung zugeschrieben, er kam nicht l”nger aus dem Meer gekrochen, sondern war, wie alles im Universum, zusammengesetzt aus Atomen, Bausteinchen, welche, so verk¸ndet das Buch, "kaum einen Bruchteil eines Millimeters groþ sind". Die Sch–pfung wurde zum chemischen Urknall. Der interstellare Raum ist die religi–se Dimension des Zukunftdenkens. Durch das Hintert¸rchen der Ehrfurcht vor der H–heren Sph”re kann ger”uschlos der medizinische K–rper eingef¸hrt und der Zukunftsjugend implantiert werden. * In jedem Zukunftsmodell ist einkalkuliert, daþ man aus der Gegenwart darauf schlieþt. Nat¸rlich sind alle Optionen offen. Was vergessen wird, ist die Vergangenheit, die daher immer wieder zur¸ckkehrt, allen Retro-Bewegungenen zum Trotz. Nicht alles was noch kommen wird hat Zukunft. Pflanzen, Tiere und Steine machen sowieso nicht mit. Die Spezies haben nur dann Zukunft, wenn sie ausgestorben sind. Der Dinosaurier war noch nie so lauthals anwesend wie heute (wir warten auf das Kommen dieses Gottes unter den Zukunftstieren). Eine reichliche Menge Zukunft ist jetzt schon realisiert. House & Techno als Zukunftsmusik kann hier und jetzt erfahren werden. Der Widerstand der No Future war gegen die Arbeit an der Zukunft gerichtet. Sie wies jede Verantwortlichkeit von sich, weil die eigene Karriere bloþ in einer atomaren Ekstase enden konnte. Nun, da die Zukunft eine Tatsache ist, muþ keine emsige Arbeit mehr verrichtet werden, zu der man mit p”dagogischem Zureden angetrieben werden muþ. Die Zukunft ist nur eine Sammlung von M–glichkeitsr”umen, wo ein Kommen und Gehen herrscht und die Kontrolle nichts zu melden hat. "Es gibt nicht eine einzige Zukunft, es gibt 1001 m–gliche." Der future shock wird sein, daþ es Leben auþerhalb der Zukunft gibt, auch in der Welt von Morgen.