Boneware und Body Culture von Bilwet/Agentur Bilwet/Adilkno “Ach, es sind bloß Tatsachen.³ Johan Sjerpstra Der Körper hat einen Trick gefunden, dem Geist das Fleisch auszutreiben. Das ist im wesentlichen das Projekt der Virtualität. Cyberspace steht von Anfang an in der Tradition der gnostischen Verschwörung, die der reine Geist durch Zurücklassen des Körpers zu erreichen trachtet. Die Propheten der VR schauten nur in eine Richtung: vorwärts auf die spannenden Abenteuer und die Ekstasen, die der Weltgeist bald erleben sollten. Wohin man auch blickte, wurde die Vergangenheit als Anlauf zum heutigen Megajump ins Reich der Lichtgeschwindigkeit betrachtet. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die immateriellen Tendenzen, und der Körper wurde in den Reproduktionsbereich (Sport, Essen, Sex) verdrängt. Freilich wird das dann und wann auf der intellektuellen Ebene diskutiert, besonders dann, wenn der Geist es nicht mehr so recht weiß und die Langeweile zugeschlagen hat. In diesem periodischen Feiern der Rückkehr des Verdrängten wird der Körper trotz seiner Materialität allerdings doch wieder metaphorisch begriffen und dient als Auslöser für gute Debatten. “Körper, wir werden dich doch nicht vergessen!³ Der Körper hat sein eigenes Projekt. Darin sind zwei Tendenzen auszumachen: die Rache und die Metamorphose. Der Körper will nicht länger als Kompensationsmaschine für die mißglückte Virtualität dieser schlechten Stühle, unhandlichen Tastaturen, zu hohen Tische, durchgebrannten Bildschirme, krebserregenden Handies, störenden elektromagnetischen Felder dienen. Und dann die langen Arbeitszeiten der hyper-enthusiastischen Datenarbeiter, ihre Netzabhängigkeit, die verlorenengegangenen Daten, der Stress, dauernd updaten zu müssen. Die ergonomische Industrie entwickelt sich gleichzeitig mit der Computerbranche, unternimmt aber nur etwas gegen die Symptome, nicht die Ursachen. Astronauten, deren Muskeln bei langandauernder Schwerelosigkeit schlapp werden, sind zu bemitleiden; schlimmer noch sind jedoch die steifen Muskeln, entzündeten Sehnen, Maus-Arme, aufbegehrenden Pulse, verkümmerten Halswirbel, verrenkten Schulterblätter, das verschobene Steißbein sowie CTS und RSI der triumphierenden virtuellen Klasse. “Ich spendete meinen Körper dem Fortschritt.³ Weil der Mensch selbst Teil des digitalen Œprogress in action¹ ist, nimmt er mit allem Ungemach vorlieb. Wertlose Interfaces, unverständliche und umfangreiche Software, unauffindbare Daten, der eigene Körper wird genauso schnell abgeschrieben wie die dazugehörige Apparatur. ŒDatamining¹: auch die Bergarbeiter bekommen erst nach der Entlassung Probleme mit ihrer Staublunge. Der Bilwet-Orthopäde Rothule: “Man hätte Computer erst nach 15 Jahren Tests einführen dürfen.³ Nun wird eine ganze Klasse von Therapeuten mit der Rehabilitation mittelständischer Digirati reich. Dem privatisierten Gesundheitswesen geht es immer besser. Am Arbeitsplatz steht nicht mehr nur die geistige Arbeit unter der Kontrolle des Systems. Auch der Körper wird überwacht und ist einem neuen Regime unterstellt worden. Er muß jede Viertelstunde hinausgehen, gestreckt und entspannt werden. Nach einer Stunde muß man sich vom Terminal entfernen und sich in den Ruheraum mit bequemen Liegestühlen und beruhigender New Age-Musik begeben. In der Kantine gibt es nur biologisch-dynamische Nahrung, um das total gestörte Gleichgewicht zwischen Ying und Yang wieder halbwegs zu normalisieren. Die Euphorie ist vorüber, ebenso wie alle Zweifel und Kritik. Nun muß durchgearbeitet werden und das tut weh. Das Netzwerk ist bereits funktionstüchtig und muß Geld abwerfen. Was einst durch Automatisierung eingespart wurde, wirkt sich nun als langwieriger krankheitsbedingter Arbeitsausfall aus. Vielen Dank, Bill Gates! Das Motiv der Rache entspringt noch Vorstellungen aus der Einführungsphase des Computers, nämlich daß uns die Elektronik in Kürze von einem Haufen langweiliger Tätigkeiten befreien werde. Dies ist ein recht einfaches psychoanalytisches Schema, mit dem die Profiteure der Third Wave noch lange zu schaffen haben werden. Es ist die posthume Variante des Höchstpersönlichen, als das sich Politik erwies. Gender wurde durch Flesh und das Frivole der Wetware ersetzt, deren Vergnügungen strammer Boneware mit ihren Prothesen Platz machen mußten. Wir haben es hier mit einem Leiden zu tun, gegen das keine esoterische Bekämpfung ankommt. Es sitzt nicht zwischen den Ohren sondern zwischen den Ellenbogen. Deshalb muß auch dringend etwas dagegen unternommen werden. Speziell dafür gibt es allerlei Synthesen von Körper und Geist im Angebot: von Tantra, Yogarobics, Mensendieck-Gymnastik, den High Impact Workout, Briskwalken und Callanetics bis zum “interkulturellen Lockerungs-Mix³ nach dem High Impact Workout. All diese Methoden sind darauf ausgerichtet, der plötzlichen Rückkehr des Körperlichen, allzu Körperlichen vorzubleiben. Dein Körper ist dein bester Freund, aber wie gut kennst du ihn eigentlich? Vom Körper aus gedacht, sehen diese hypermodernen Phänomene aufeinmal gang anders aus. Der Körper selbst mag wohl andere Vorstellungen haben. Die Themen von Rückkehr und Rache entstammen einem kulturellen Unbehagen und sind eine physische Variante von Adorno/Horkheimers “Dialektik der Aufkärung³. Der Körper freilich sieht große Möglichkeiten in der Virtualisierung, weil er damit allen Zivilisationsballast abschütteln kann, der über Jahrhunderte am Körper festgemacht wurde. Kulturelle Codes haben immer für die Herrschaft des Geistes über den Körper gesorgt. Zur Zeit heißt das geistige Regime Identität, Gesundheit, Spiritualität, im Heute und für die Nachkommen. Jemand mit einer fließenden Identität wird schon akzeptiert (wenn auch nicht von Autoritäten). Das ist ein erster Schritt zur Realisierung des Körpers ohne Identität. Die lockende Perspektive eines Umzugs der Geiste in den Cyberspace eröffnet den Möglichkeitsraum eines von seinem Geist befreiten Körpers. Wenn der Körper nicht mehr beschränkt wird, kann er eine ganz eigene Richtung einschlagen. Er kann frei metamorphisieren und die merkwürdigsten Gestalten annehmen. In der zeitgenössischen Dualität kann der Körper nur noch als Last oder als Genußmaschine gelesen werden, dieser oder jener Körperpolitik unterworfen. Aber was hier als Rache des Körpers interpretiert wird, könnte auch auf eine geheime Agenda des Körpers selbst hinweisen. Vielleicht hat der Körper den Geist gebraucht, um den Mensch dazu zu bewegen, daß er Mittel sucht, die Erde zu verlassen und sich im All auszubreiten. Vielleicht ist Virtualität ein Mittel des Körpers, den Geist als Parasiten von sich abzuwerfen. Alles was lecker ist, ist ungesund - das sollte zu denken geben. Das europäische Denken trifft sich beinahe mit der Idee der Kultur. Es ist immer nützlich, dem Geist ein Haus zu bauen, sei es ein Tempel, ein Palast, eine Kirche, eine Bibliothek oder die (digitale) Stadt insgesamt. Hier herrscht das ŒWohin¹-Denken, das alles in das Zeichen einer linearen auf einen Endpunkt gerichteten Entwicklung stellt: die Wahrheit, die Freiheit, das Schöne, der Himmel oder das Höhere. Hierin liegt die Quelle des Drangs nach Virtualität. Bei der Emigration dieses Gedankengutes in die Neue Welt wird die Trennung zwischen Körperlichkeit und dem geistigen Prinzip verabsolutiert. In den USA baut man kein Haus mehr für den Geist, sondern man baut den Körper selbst um. Sowohl der städtischen als auch natürlichen Umgebung wird ein direkter Einfluß auf das menschliche Dasein abgesprochen. Alles wird der Bedingung des Körpers unterworfen. Der Körper ruht in sich selbst und hat kein Heimweh mehr nach dem Geist: dem entspricht Walt Whitman¹s “I think the body electric³. Die Œcouleur locale¹ der Amerikaner ist ihre Überzeugung, ihre eigene Kultur sei global. Die lokale Kultur ist der Meinung, daß sie mit ihrem eigenen Kontext übereinstimmt. Europa hat die nötige Erfahrung mit Kulturen, die universelle Kontakte hatten, gesammelt. Aus der europäischen Perspektive ist die spezifische, mit der Internet-Cyberkultur verbundene Körperpolitik nur eine von vielen Disziplinierungsarten. Europa hätte das Konzept der Œbody culture¹ nicht entwickeln können. Der Body war vor der Culture da, aber zusammen waren sie nichts. Der Körper war kein Ziel von Kultur, er ist nicht einmal ihr Träger. Die Stärke der Œbody culture¹ liegt darin, daß sie eine eigene Kultur ist, die auf eigenen Beinen stehen kann, ohne irgendwohin zu müssen. Hier herrscht nicht die ŒWohin¹-Frage sondern der ŒWie¹-Gedanke, der die Ausweitung der Praktiken weiter anfacht. Der europäische Widerspruch von Natur und Kultur ist in der amerikanischen Technik aufgehoben (und Body Culture IST Technik): der Körper ist ein (Bio-)Apparat unter (Fitness-)Geräten. Technik ist die Art, auf die sich der Körper seiner kulturellen Verpflichtungen entledigt. Body Culture zeigt als Sport und Theater, daß Technik nicht per Definition gegen den Körper gerichtet ist (wie die Europäer behaupten). Die Maschinen verbessern den Körper - nicht weil er sich in einem solch schlechten Zustand befände, sondern weil er noch besser gemacht werden kann, als er schon ist. Das ist der Ansatz jeder Sportschule. Vieles was seit den sechziger Jahren erreicht wurde, ging um die Akzeptanz von Lüsten und Lasten des Körpers, die über Jahrhunderte entweder geleugnet oder kontrolliert wurden. Die Body Culture der achtziger Jahre baute auf dieser Basis auf und entwickelte ein Körperideal, wie es noch nie vorgeführt worden war. Nach seiner Emanzipation ging der Körper seiner eigenen Wege, sei es, daß er sich mit Muskelbündeln ausrüstete, sich mit großen Brüsten ausstattete oder sich plastisch (oder digital) re-modellieren ließ. Das sind alles Versuche, den ungebremsten und autonomen Drang des Körpers zur Metamorphose im Griff zu behalten, indem man ein wenig nachgibt. Das ist auch die Angst vor Doping (und Drogen im allgemeinen): was geschieht, wenn der Körper seine natürlichen und kulturellen Grenzen ganz hinter sich läßt? Das Œdigitale Delirium¹ kennen wir inzwischen, aber was bringt uns das physikalische Delirium? Genetic design beyond revenge? Es ist einfach, sich eine Weltordnung vorzustellen, die von der amerikanischen Sucht nach sauberen Genen (und Memen) beherrscht wird. Wir sind Vertreter der schmutzigen Hybridität, aber es wird interessanter, wenn der Körper wirklich seiner eigenen Wege gehen kann und nicht mehr welcher ästheto-genetischen Kontrolle auch immer unterworfen ist. Hier eröffnet sich das post-technologische Paradigma, daß der ermüdenden Dialektik von Körper und Technik entwichen ist. Der Cyborg ist disbezüglich eine karnevaleske Übergangsfigur. Er parodiert seine natürliche Seite mit seinen technischen Protesen und umgekehrt. Er schmückt sich mit seinen Gadgets auf festliche Art, weil die Beziehung zwischen Körper und Technik noch sehr sichtbar ist. Dafür werden auch allerlei barocke Interfaces entworfen, wobei die Rolle des (elektronischen) Künstlers maßlos überschätzt wird. Es spricht ein naiver Glaube daraus, daß alles gut wird zwischen uns und der Technologie. Aber was nützt das der Technik? Der posttechnologische Körper hat alle billigen Synthesen zwischen Körper und Geist, Natur und Kultur, Materialität und Virtualität passiert. Der posttechnologische Körper lehnt ab, länger Fahrzeug von Genen und Geschichte zu sein. Er läd zu einer Reise durch den Körper, die Tiefen und unbekannten Gründe der lebenden Materialität ein. Dort beginnt jedes negative Denken.