Die Homöopathie des Bösen The Coming Man Revisited von bilwet ³Der Übermensch erscheint dort, wo der Mensch keinen Sinn mehr hat. Er ist der Mensch, der es aushält, in einer Welt ohne Sinn zu leben. Das Zerbrechen der alten Wert- und Rangordnung zerbricht ihn nicht. Er gibt sich selbst seinen Rang und Wert. Alles ist wieder im Flusse.² F.G. Jünger Das Unheil kommt nicht von außen. Es gibt keine verführerische Außenwelt, in der ein böser Genius die im Prinzip leere (und weiße) Seele mit Propaganda infiziert. Es ist nicht die Schuld der Gesellschaft. Ebensowenig kommt es aus dem Inneren, aus einem Pfuhl banaler Triebe und verdrängter Bedürfnisse, die rachsüchtig wiederauftauchen. Zur Zeit haust es zwischen dem Doppelglas des Ichs und der Welt. Jenseits des Es und seiner Umgebung entstehen nunmehr unvorhergesehen termopane Räume, die Sphäre des Zwischenmenschlichen, wo das Böse blüht. Die Œblack lodges¹, aus denen der BOB in uns hervorbricht und Gleichgesinnte antrifft. Das Böse ist kein absoluter Wert mehr, sondern eine schwebende, unbestimmte Zone, die sich immer neu transformiert. Man kann sich ihr nicht anheimgeben oder sich für sie einsetzen, verbindliches Engagement ist hier unangebracht. Lombroso war eine heroische Gestalt aus dem Zeitalter der determinierenden Wissenschaften, als es noch Maßstäbe für Gut und Böse gab und die beiden noch miteinander in Relation gesetzt werden konnten. Heute leuchtet vor allem eine ethnische Unschuld aus den Darstellungen des Bartaffen, der Hakennase, des pockennarbigen Schielenden, der buckligen Hexe, des sabbernden geilen Bocks, des napolitanischen Aufsteigers und des kaukasischen Typs. Mit der Genetik hat man dergleichen im Griff. Heute hat man eine schwierige Jugend, früher hatte man ein häßliches Äußeres. Damals hatte eine Ursache eine Folge und beide waren stabil, aber in diesen Zeiten weiß man weder ein noch aus. Eine Reihe von missing links: ³Das hätte man niemals von ihm erwartet, auch hinterher nicht.² Stationen auf dem Lebensweg: wer bis zu seinem Dreißigsten nicht gefehlt hat, hat kein Gewissen, wer danach das Gute nicht erkennt, hat keinen gesunden Menschenverstand. Das kulturpessimistische Modell lehrt, daß das Gute von selbst im Schlechten mündet, in allen guten Vorhaben ist der jämmerliche Ausgang schon angelegt, alle autonomen Initiativen enden im Kommerz. Das Gute schlägt Wurzeln im Bösen, blüht darin auf und kehrt sich unwiederruflich wieder zum Bösen, ashes to ashes, dust to dust. Nur noch das Nichtstun bietet dann noch eine Perspektive. Umgekehrt muß ein schlechter Auslöser nicht einen gutes Ende verhindern. Der Spruch der UN: erst wenn sie ihr Land ganz und gar kaputtgeschossen haben, kommen wir zu Hilfe. Internet war eine dezentrale Kommandostruktur aus dem Dritten Weltkrieg, führt nun jedoch unverhofft zur Weltdemokratie in eine unabhängige Datensphäre. Zur Zeit gedeiht man vom Bösen zum Guten, aber wer noch nach dem statischen Modell aus dem ŒGolden Age¹ des Kalten Krieges arbeitet, welches Karriere und fortschreitende Anpassung als persönliche Entwicklung betrachtete, endet unvermeidlich bei den melancholischen Anhängern von Buchanan, Funar, Bolkestein, Djuganov. Zugleich bleibt die Umkehrung der Pole jederzeit möglich: es zeigt sich, daß die Kinderpornographen im Internet stärker sind als die gutartigen Absichten der wehrhaften Netwatchers. Porno für Kinder ist der Schüssel, das Netz zu verschließen, auch wenn nicht klar ist, ob das Böse nun an der puritanischen Mentalität der Web-Regulierer oder der Software brünstiger sex search engines liegt. Sobald man das Modell des Immer-Schlimmer-Werdens aufgibt und durch das phantasmatische Modell des Immer-Besser-Werdens ersetzt oder die realistischere Option von Œvielleicht schlecht¹ oder eventuell des Immer-Neutraler-Werdens, verliert das Leben seine eindeutige Übersichtlichkeit. Es hat keinen Sinn mehr, das Böse zu definieren oder zu lokalisieren: für einen Laien ist das nicht mehr zu begreifen, da die Liste von Übeltätern und fatalen Ursachen inzwischen so lang und vage geworden ist, daß selbst das negative Denken dem nicht mehr beikommen kann. Spielt einmal auf einem Besinnungs-Wochenende mit der Frage herum, ob der Kapitalismus nun das Problem oder die Lösung ist. Niemand weiß Rat. Es kommt auch niemand mehr auf die Idee, diese Art von Megaproblemen einem Computer vorzulegen. Da inzwischen die Ursachen nicht mehr wichtig sind, widmet man sich dem Design des goldenen Mittelwegs. ³Warum gibt es überhaupt noch Flugzeuge, wenn wir längst Internet haben?² Sich mal eine Nacht austoben verhindert, daß man langfristig ausflippt. Böses tun, um Schlimmeres zu verhindern: der anhaltende Niedergang kann durch einen chirurgischen Eingriff abgewendet werden, auf politischer Ebene (Golfkrieg), auf sozialer Ebene (der Betriebsausflug, eine intensive, informelle Konferenz über neue Medien) und im Sport, aber auch auf der Basis der individuellen Psychologie: die persönliche Stromschnelle, im Wechsel mit langanhaltenden Perioden von low intensity life style (Gute Zeiten, schlechte Zeiten). Das Ende der Weltrevolution und des langen Marsches ist bekannt: die erste verändert nichts und der zweite versandet. Was übrigbleibt, ist die spasmodische Initiative, den Laden noch nachträglich zu retten. Vergleiche Ihr T-Shirt: No Time To Waste. Wo Engagement und no-nonsense täglich in beiden Richtungen ineinander übergehen können, hat die Ethik das Nachsehen. Polarisieren oder Versöhnen? Gerne, gute Idee. Die midlife crisis hat nichts mehr zu bedeuten, da man inzwischen früh alt und ewig jung ist. Der bekehrte Fünfziger, der vom Feld der Probleme zu dem der Lösungen überläuft, der Kathechismus als ungelesener Bestseller, ausbleibende Phantasien nach dem Lesen von De Sade, der Ex- Dissident, der die Kommunisten als die großen Demokraten betrachtet, die Selbstmordanleitung für Lebensgenießer, der Liberale, der vor den Folgen weltweiter Deregulierung warnt, der 95jährige, der ³ganz unerwartet² starb, der amerikanische Neonazi, der an Deutschland ausgeliefert wird, Polizisten als Diebe, Mißhandlung von Frauen bei lesbischen Paaren: ³Das alles gibt es und vieles mehr.² Die Umwertung aller Werte hat eingesetzt und es gibt kein Halten mehr. Nietzsche hat das Nachsehen, und alles was der gute Mann in seinem Kummer und seiner Aufregung schrieb, macht keinerlei Eindruck mehr. Wenn sich die Massen mit ihren Eliten jenseits von Gut und Böse begeben, wird die gesamte Moraltheologie eine Mixtur partikulärer Meinungen. Jeder denkt sich das Seine. ³Ich sag¹ mal so, ich sag¹ nichts.² Sobald das Böse ein kurzfristiges Hobby wird - ein Entwicklungsprozeß, durch den man hindurch muß, eine Erfahrung, die man machte, eine gute Idee, die anders ausging, als erwartet, erfolglos auf die Weltgeschichte gesetzt - helfen auch Bekehrung und Besinnung nicht mehr. Mit Texten hadern und über der eigenen Lebenserfahrung brüten ist eine Beschäftigung, kein Studium, geschweige denn Kritik. Der Unterschied zwischen auslegendem Klerus und perfidem ausführenden Volk ist abhanden gekommen. Die düstere Œhate speech¹ steht diametral zur akademischen (In)Differenz- Industrie, die alle Konflikte auf den Themenmarkt wirft. Der dichtende Delinquent ist ein gutes Beichtkind, das auf Anerkennung des richtenden Standes zählen kann, ohne Einsicht bieten zu müssen. Handeln und Sprechen sind wie nie zuvor auseinandergefallen, und wir sind jetzt in einer Phase scheiternder Richter und ohnmächtiger Polizei angelangt, die wie alle anderen der herrschenden Ambivalenz, oder besser noch der Multivalenz, zum Opfer gefallen sind. Der alte Spuk des Bösen existiert noch stets in Form gedeihender Befreiungsfestivals, des neuen Besucherzentrums des Anne Frank- Hauses und amerikanischer Holocaust-Museen. Dieser Beschwörungsritus findet keinen Halt mehr in den täglichen Dingen. Er lebt in seiner Antithese weiter. Die italienischen Neo-Faschisten profilieren sich als prinzipielle Anti-Faschisten. Über den historischen Faschismus gibt es nichts mehr zu sagen, wohl aber über die dumme Präsentation jener Zeit und die mangelnde Logistik, welche den Verkehrsströmen der Geschichtstouristen nicht mehr gewachsen ist. ³Nie mehr Auschwitz² ist die Schlußfolgerung, die man nach Bosnien ziehen kann. ³Wir sind uns also einig?² Den Rindern wird Rindfleisch aufgetischt, japanische Autofabriken sind in amerikanischen Händen, Walkmans werden als Lärmdämpfer ausgeteilt, Informationseinschleusung verdrängt Wissenssammlung, ein Pragmatismus, der sich gegen sich selbst kehrt. Das Unsinnige ist zum Vernünftigen geworden. Wo man noch nach Orientierung und Trost sucht, gibt es die letzten der Negationisten, die Auschwitz leugnen, Stalin anbeten, den Molotow- Ribbentrop-Pakt weiter verteidigen und Hiroshima billigen. Das sind nicht die Œewig Gestrigen¹ sondern Sündenböcke, die als Gesprächsanheizer Ängste kanalisieren. Es sind autonom funktionierende Sputniks, an denen sich meinungsbildende Organisationen ausrichten. Jeder Störfaktor kann in dieses Rollenmuster geraten. Das zeitgenössische Böse der Gesprächssendungen - Massenmord, Bürgerkrieg, blinder Terror, Erdbeben, Epedemie, Flugzeugkatastrophe, etcetera - ist medial ebenso neutralisiert wie das alte Böse. Niemand, der noch etwas dahinter sucht. Man findet sich von vornherein mit der Vorstellung ab, daß viel mehr dahinter steckt. Hier liegt die Aufgabe für die Geistesgestörten unter uns, die sich den wahnsinnigsten Sekten anschließen, die verstehen, daraus noch eine kohärente Sache zu machen. ³Gaia hat Krämpfe, dafür kann man nichts². Die non-dimensionalen Daten von TV und Medien können die umherhüpfende Dialektik der human story nicht verkraften und sind zu seicht für die Komplexitätssüchtigen. Im sich ausweitenden Zentrum großer Ereignisse und vager modus operandi erschließt eine neue Art von politischen Interventionen ein Terrain, wo die Objekte (Opfer) bekannt, mutmaßliche Täter auszumachen sind, aber das Motiv nebulös bleibt. Ein Plan wird nie benannt, kann auch nicht rekonstruiert werden, und ist in der Schwebe. Das Elend hätte längst durch das unerschrockene Einschreiten der SoG, der Soldaten ohne Grenzen, behoben werden müssen. Bis jetzt ist es immer beim alten geblieben und wir warten noch stets auf den qualitativen Sprung, durch den eine Katastrophe ihre regionale Begrenztheit radikal überschreitet. Tschernobyl gab einen kleinen Vorgeschmack auf das, was möglich sein müßte, um die Menschheit wachzurütteln. Tschernobyl etablierte die Sehnsucht nach dem, was möglich hätte sein können. Die Vorstellung, daß der Andere zeitweise oder für immer in der Scheiße sitzt, inspiriert nicht mehr. Es bleibt unbefriedigend, daß das Böse immer auf etwas Lokales, Temporäres und Vorübergehendes reduziert wird. So wird es nichts mit dem Bösen, obwohl es doch so schlecht um die Welt steht. Das Wahre Böse ist daher nicht lokalisierbar.