Künstliche Liebe Einführung in das Phantasie-Design Zeitgenössischen Sex-Designern ist die Beziehung zur Macht abhanden gekommen. Wenn die traditionelle Machtfrage keine Bedeutung mehr hat, begibt man sich auf ein neues, unbekanntes Terrain. Zumindest, so scheint es, was den Wirbel um ŒVS¹ angeht. Man ist so glücklich über diese vielversprechende Entdeckung, weil der Sex nun endlich wieder zum paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall zurückgekehrt ist. Während in den sechziger Jahren noch eine revolutionäre, gesellschaftliche Perspektive nötig war, um den Sex zu befreien, bedürfen die neunziger Jahre keinerlei Legitimierung. ŒVirtueller Sex kann nicht richtig sein¹, flüstert uns das kritisch- moralische Bewußtsein zu. Es muß sich um Lüge und Betrug handeln. Schon viele meinten darum, daß Œvirtueller Sex¹ einfach nicht existieren kann und darf. Die Unheilspropheten sehen schon die ersten Anzeichen des Niedergangs. VS macht süchtig, legt das Netz lahm, ist ein Zeichen von Narzismus, Zynismus und Autismus und fördert Realitätsverlust. Der Surrogatsex der Cyberjunks mit ihren Apparaten ist ein verwerflicher Eskapismus im Zusammenhang mit Aids. Es ist zwar safer Sex, aber diese kondomfreie Befriedigung könnte schlimmer sein als das Leiden selbst. Kurzum, diese typisch europäische Denkweise betrachtet Sex noch stets im Licht von Gefahr und Untergang. Die traditionelle Kritik an VS ist ein verschleiertes Plädoyer für den real existierenden Sex, der nicht verschwinden darf. Aber worüber diese Kritiker schweigen, ist die Krise des zeitgenössischen Sex. Im Ehebett des Vereinigten Europa wird geredet, ferngesehen, geschlafen, telefoniert, Sport getrieben, gelesen, doch das Zeugen von Kindern bleibt auf ein Minimum beschränkt. Das Bevölkerungswachstum in Europa wird importiert. Eine Beziehung zwischen einer Kritik der VS und der explosiven Zunahme von Migranten und Flüchtlingen kann nicht hergestellt werden, weil das unter das Tabu des Rassismus fällt. Die ausgedehnte Mittelklasse redet um den heißen Brei herum und muß als Ausdruck von Verdrängungsarbeit verlegen darüber lachen. Die Europäer müßten faktisch zum viktorianischen Geschlechtsverkehr zurückkehren. Nicht unmoralisch mit Maschinen, Gummi, Tieren, Büchern, sondern echt im Sinne von ³gesetzlich, durch die Ehe verbunden². In eine solch beengte law&order-Ehemoral kann es jegliche Kritik der VS verschlagen, denn gegenüber der ³virtuality² steht nun einmal die ³reality², und die ist qua Sex in ein terminales Stadium gelangt. Die Belustigung über den gehandicapten Anderen, der zur Kopulation mit dem Maschinellen verurteilt ist, hat einen bitteren Nachgeschmack: man verurteilt die Unproduktivität, meint jedoch eigentlich die eigene (weiße) Impotenz. Nach der feministischen Kritik des Sexismus im männlichen Verhalten, in der Werbung, bei der Arbeit und im Bett ist eine Ära eines hyper- sexuellen Bewußtseins angebrochen. In Zeitschriften, in der Kunst, auf der Tanzfläche, in der Musik (Prince/Madonna) findet man eine begeisterte Neubewertung harter, spielerischer und expressionistischer sexueller Techniken. Der Körper muß sich ausdrücken und die sexuell korrekte bodyculture verlangt nach maximaler Spannung, um alles herauszuholen, was möglich ist. ³Suck it, baby!² Eskortiert von einer Massenkultur von Zeichen und Anweisungen wird der postfeministische Körper, gestützt durch eine Vielzahl akademisch untermauerter Gender-Konstruktionen, wieder zur ŒSexmaschine¹. Es ist jedoch ein anderer Körper als der aus der Ära James Brown. Es geht nicht mehr um Befreiung von Sexualität oder das Praktizieren perverser Kräfte, sondern um deren Zirkulation. Sex ist im Überbau gelandet, wo er als immaterielle Ware gehandelt wird. Freud hatte seinerzeit noch die Illusion, daß Sex im Unterbau saß, während man sich dessen nun superbewußt ist. Sex soll nicht verdrängt oder befreit, sondern zelebriert werden, lautet die heutige Devise. Sex ist eine heilige Aktivität, die wegen ihres Imagocharakters nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf. Was ist das Geheimnis des Intersex? Es handelt sich hier nicht um die unschuldige Frage eines interessierten Journalisten der Printmedien, der auch einmal eine tolle, hippe Reportage machen will. Die Frage bezüglich VS kann nur innerhalb der klassischen europäischen Tradition von Sex, Wissen und Macht verortet werden (wie Foucault sie in seiner dreiteiligen ŒGeschichte der Sexualität¹ analysierte). Die ŒSorge wegen VS¹ ist sehr viel größer als die tatsächliche Praxis. Die Anzahl an ŒVS-related¹ Themenheften, Gesetzgebungen, Skandalen, Kunstinstallationen, Büchern, Erwartungen, Filmen und Fernseh-Items, Sekten, Ansichtskarten und sex fiction ist unüberschaubar. Die Repräsentation hat die Geschützfeuer des Œreal personal¹ Computers wiederum überwuchert. Weder Hardware noch Software werden je imstande sein, die Versprechen einzulösen. Das große Interesse an VS kann nicht mit Begriffen der Marketingstrategie interpretiert werden. Wie spannend die Geschichten auch klingen mögen, sie stellen keine Werbung für eine künftige Realität dar, sondern haben letztlich eine reaktionäre (und rassistische) Effekt. Was in erster Instanz aussieht wie das Pushen von Cybersex und Supertechnologien im allgemeinen, bewirkt nur, ihn anpassungsfähig zu machen und ganz zu beherrschen. Die übermaschinellen Erwartungen erweisen sich also als hinterlistige Strategie, um den erregten Nutzer zu frustrieren. Der Diskurs um virtuellen Sex steht in einer langen prothetischen Tradition von Mensch und Maschine. Mit den Automaten aus dem 17. Jahrhundert entsteht das Problem der Beherrschung des Menschen durch seelenlose Maschinen. Diese Geschichte ist in Sigfried Giedons ŒMechanization takes command¹ (1948) nachzulesen. Dort gibt es wahrhaftig ein Kapitel über Œmechanical vertilization¹, in welchem er vor einem ³gefährlichen Punkt² warnt, der erreicht wird, wenn künstliche Fortpfanzung beim Menschen möglich wird. Die Ausbeutung des Menschen durch Maschinen ist auch bei Karl Marx zu finden, analysiert als Anklage gegen die Unmenschlichkeit. Erst im Zeitalter der Automation in den sechziger Jahren ist ein Wandel zu beobachten und die libidinöse, produktive Beziehung zwischen dem Menschen und seiner ŒJunggesellenmaschine¹ wird betont (von Reich bis Deleuze/Guattari). Die Maschine wird Spielzeug: wenn sie kein Vergnügen verschafft, ist es keine gute Maschine, und das wurde nicht zuletzt bei Nintendo gut begriffen. Obgleich Cyborgs a la Donna Haraway und Netz-Cybersexuologen entschieden behaupten, sie seien Teil einer Untergrundbewegung, die uns noch bevorstehe, gehören sie schon längst zum herrschenden Diskurs. Die Cybervisionäre von Howard Rheingold über Michael Heim bis Douglas Rushkoff betrachten Maschinensex als neue Produktionskraft, die von ihren Fesseln befreit werden muß. Der Œbody electric¹ muß elektronisch ausgestattet werden, um dem öden Alltagsleben mit seinem sozialen Getue zu entkommen. Er akzeptiert die proklamierte Aufhebung des Sozialen und das Verschwinden des öffentlichen Raumes und befürwortet die totale Unterwerfung unter die Œvirtuality¹, ganz im Interesse der entstehenden Œvirtual class¹, wie Kroker und Weinstein in ihrem Buch ŒData Crash¹ beschreiben. Die Propheten der Westcoast beschreiben virtuellen Sex stets als ekstatische Verbindung des Körpers mit der Maschine. Der Diskurs der Œcyberculture¹ (so wie von Mark Dery u.a. analysiert) kann auch als ŒPhantasie-Design¹ definiert werden. ŒGet Wired¹ muß dann auch buchstäblich als der einfache Aufruf aufgefaßt werden, die eigenen Körperteile anzuschließen, und nicht unbedingt, um zu kommunizieren. Wenn die Rede von einem Austausch ist, dann auf der Ebene des Œdialoge interieur¹ beziehungsweise der Phantasie. Virtueller Sex, soweit man über ihn Bescheid weiß, hat keinerlei haptischen oder sensuellen Qualitäten. Und die braucht er auch nicht zu haben. Das Zubehör aus Kunststoff wirkt asexuell, ist viel zu plump und zu schwer, zu auffällig und umständlich und entbehrt völlig der subtilen Qualitäten der Verführung. Als Phantasie-Design jedoch, plaziert in eine verträumte, halluzinierende Umgebung, ist es ein großer Erfolg, sowohl sexuell als auch finanziell. Die Phantasie lebt vom Manko (³Kleiner Fehler, ohne Garantie² - G. Reve). Die Gestaltung der Phantasie spekuliert auf den Fehler und leugnet ihn zugleich. Virtueller Sex als Konzept geht mit einer Verlagerung der empfindlichen erogenen Zonen des Körpers einher. Folgt man den ŒVorlesungen¹ von Sigmund Freud, braucht der Œuser¹ mit einer Phantasie, die nicht aus einer konkreten Verführung rührt, keine Masturbation mehr. ³Sex without secretion², wie Arthur und Marilouise Kroker es bezeichnen. Mit dem Herannahen von Cybersex verlagert sich die erogene Zone von den Genitalien auf die Händen, die Fingerkuppen, die Ohren, Augen oder sogar auf Metazonen wie die abstrakte Matrix im eigenen Kopf und auf den persönlichen Bildschirm. Das Phantasie-Design sammelt und organisiert die Methoden und Techniken der Verlagerung. Es versteht, die empfindlichen Stellen anzusprechen und zu erschließen. In diesem spezifischen Design wird die ŒTraumarbeit¹ unter elektronischen Bedingungen kartiert und verdichtet. Was genau bewertet wird, ist die Kraft der Einbildung, nicht die Perfektion der Maschinen. Das Phantasie-Design als positive Wissenschaft erkennt die Grenzen der Mechanisierung und verfällt nicht in Paranoia. Virtueller Sex als erfolgreiches Fantasma ist eine explizite Fortführung des Evangeliums nach Johannes dem Lennon: "Make Love Not War". Indem die Phantasie elektrifiziert wird, kann die Frustration aus ihren destruktiven Oppressionen befreit werden, und das ist noch stets die Macht der VS. Aus der Sicht des Bilwetschen Produktions-Dreiecks von Hardware (Japan), Software (USA) und Wetware (Europa) ist die sexuelle Frage in hohem Maße europäisch. In den Augen der hauseigenen Philosophen und Kritiker müssen dem alt-europäischen, ausrangierten Subjekt, das als triefender Körper an der Hard- und Software hängt, Zügel angelegt werden, sonst nimmt es mit der Welt ein schlimmes Ende. Ebenso wie die amerikanischen Konservativen hätten besorgte Europäer am liebsten, daß Sex wieder in den Genitalien der weißen Besseren Hälfte verschwindet. Der sich selbst in Clubs und auf der Straße zelebrierende öffentliche Sex soll wieder in Richtung ehelicher Lagerstätte getrieben werden. Für sie hat Sublimierung nur einen Ausweg, nämlich Arbeit und Produktivität. Der gesamte Sektor der künstlichen Liebe (KL), medialer Sex via Telefon, game oder Zeitschrift und der virtuelle Sex im Netz, wird als bloße Verschwendung und damit als Sünde betrachtet, eine christliche, abendländische Kategorie par excellence. Und das mündet in eine ökologische Katastrophe. VS stört auf Dauer jedes geistige Gleichgewicht und die Möglichkeiten zu psychischem Wachstum. Was in Europa tatsächlich auf der Tagesordnung steht, ist die multi-raciale Vermischung versus der Reinheit der weißen Rasse. Nur in diesem Kontext können wir in Europa virtuellen Sex als Problem erfahren. VS als Phantasie-Design betrachtet die Verbindung von Mensch und Maschine nicht mehr als Problem, da sich dieser klassische Gegensatz in eine selbstverständliche Symbiose verwandelt. Maschinen funktionieren nicht gut, wenn sie von Menschen bedient werden und der Mensch ist beinahe undenkbar geworden ohne einen komplementären Maschinenpark. Die mechanische Unterstützung des Sex ist eine gesellschaftliche Tatsache, vom Vibrator bis zur love doll. Der Schritt zum elektronischen Sex eröffnet jedoch neue Perspektiven. Wenn der menschliche Körper genug von sich hätte, gäbe es keinen Sex. Jeder Körper nimmt an, daß er viel mehr Möglichkeiten zu entdecken und zu erforschen hat als durch verfügbare Partner und Zubehör geboten werden. Jahrhundertelang hat man dergleichen Möglichkeiten im Exotischen gesucht, verortet im Körper anderer Rassen. Da fremde Rassen nun auf dem sexuellen Markt verfügbar sind, entsteht Interesse an einem Exotismus-Revival. Das Fremde, das ŒAndere¹ wird nun auf der Ebene von Chips und Sensoren gesucht. Man erahnt eine Vereinigung, wie sie keine der früheren Verschmelzungen versprach. Um aus VS einen Erfolg zu machen, darf der Entwurf nie realisiert werden. Berichte über noch stets unüberwindliche technische Hemmnisse interessieren uns wenig. Wenn die Phantasie den G-Spot trifft, ist die Hardware egal. Ihr Credo lautet ³Befriedigung durch Faszination².