Formen des Verfalls Ratschläge nach Festende ³Wir gingen in die Tanzstunde, um Mädchen mit heim zu nehmen.² Johan Sjerpstra Jene, die dem Zeitgeist treu waren, erwartet nun der Auftrag, eine Ästhetik der Aussichtslosigkeit zu erfahren. Man hatte auf den höchsten Gipfeln gelebt, alles herausgeholt, und sinkt nun auf den Tiefpunkt, unter die Nullinie. Wir betreten das Zeitalter der Nachwirkung. Auswirkungen werden fühlbar, ohne benennbar zu sein. Rauchen führt zu Krebs und Sex zu Aids. Das sind bekannte Risiken und Nebenwirkungen. Aufklärungskampagnen und Beipackzettel schweigen zu dem, worüber sie nichts sagen können. Es geht hier um die bohrenden und schleichenden Formen von Verfall und Befall. Krankheiten ohne Namen, unerklärliche Beschwerden. All diese vagen Leiden zusammen bilden einen diffusen Komplex. Die Implosion, auf die Baudrillard in den achtziger Jahren hinwies, besaß noch einen gewissen Charme. Er beschrieb den historischen Zusammenbruch bestehender Institutionen und rief darüber ein Gefühl des Triumphes ab. Baudrillard wußte, daß er recht hatte und ließ seine Leser daran teilhaben. Als klassischer Avantgardist eilte er der Masse voraus und konnte so von neuen Begriffskonstellationen erzählen, die bald Gemeingut werden sollten. Aber die Hyperrealität nahm eine andere Wendung. Der träge Malstrom entbehrt des spektakulären Moments der Apotheose. Die Implosion fand nicht statt. Wir sind keine Zuschauer mehr, die sich am Glanz des Zusammenbruchs erquicken. Wir werden selbst durch die freigesetzten Kräfte mitgeführt. Eine Tragfläche ist offensichtlich ausgefallen. Ein Trudeln beginnt. Ohne elastisches Bungie-Seil, ohne einen Moment für sich selbst, um den Schock zu verarbeiten. Ein freier Fall ins Ungewisse der ultramodernen Ursächlichkeiten. Die post-katholische Ära entbehrt jeder Form der Seelsorge. Das hatte Nietzsche nicht vorhersehen können. Der Gnadenstoß wird nicht durch das schicksalshafte Moment des Unglücks erteilt, sondern durch die lange Dauer der Rehabilitation, durch Geistestrübung durch Alzheimer, durch den Gang zum Hehler und zum Hellseher, durch die Gesetzesänderung, die auf sich warten läßt. Aber auch durch die Hypothek, die man nie abbezahlt, die lebenslange Therapie der unverarbeiteten Vergangenheit, die nie eingegangenen Beziehungen, die Integration, die einfach nicht zustande kommt. Das sind nicht demarkierbare Erscheinungen. In ihrer Verschwommenheit liegt ihre Fatalität. Die Konturen des menschenwürdigen Daseins verschwanden durch die Fuzzy Logic. Man kann keine Position für sich bestimmen, geschweige denn eine Aussicht auf Erlösung bieten. Man sucht nach zeitgenössischen Formen von Beichte und Buße. Sozialarbeiter würden gern selbst einmal um Rat bitten. Die Hoffnung bleibt auf den anderen gerichtet. Man bleibt optimistisch, auch in der Philosophie. Der Ausländer soll der blutlosen Kultur einen Impuls geben. Man schweift in den eigenen Gedanken umher und konstruiert aus dem Flüchtling, der Frau oder dem Künstler einen Erlöser, der uns aus der kollektiven Sackgasse helfen soll. Der Andere dient als Spiegel, doch er darf sich nicht allzu konkret präsentieren. Es sollen nicht allzuviele Vorbilder sein, sonst wird es wieder unklar, in welche Richtung der Maßstab angelegt werden muß. Der Optimismus springt auch auf den Anderen über, der als Verkörperung des positiven Vektors dient. Die Dämonen sind bereits gebannt. Wie sich das Böse manifestieren kann und erkennbar ist, wird unklar. Es herrscht eine Befriedung aller Formen von Ungleichheit, Kampf und Eliminierung. Die einzige Option ist die Akzeptanz technischer Perfektion und der Plackerei mit dem Faktor Mensch. Das kommende Zeitalter der Lösungen soll uns aus dem rauhen und anhaltenden Mittelalter der Probleme erlösen, in welches wir noch stets verbannt sind. Probleme anzusprechen wird von Tag zu Tag altmodischer. Wer sich weigert, über Probleme nachzudenken, ist selbst Teil des Problems und damit zur Vergangenheit verdammt. Die Lösung ist - anders als die Idee oder der Plan - frei von jeglichem höheren Ideal oder jeglicher Heilsperspektive. Sie ist eine Maßnahme. In der Lösung liegt auch die Abschaffung, die man akzeptieren und durchführen muß. Euthanasie als Funktionalitätsprinzip. Es gibt keine alten Probleme. Wer trägt noch an der Last der Erbsünde? Wie kann man sich noch für Sozialismus erwärmen? Die Probleme haben ihre emotionale Einbettung verloren und daher kann kein Kontakt mehr mit ihnen aufgenommen werden. Man kann sie nicht nachfühlen oder über sie sprechen, es sei denn im kontemplativen, medien-anthropologischen Sinne. In Zeiten von Aufbau und Wachstumserwartung, Marktwirkung und Kursentwicklung ist es wichtig, sich den Formen des Verfalls hinzugeben. Dabei handelt es sich nicht um mutwillige Dekadenz. Es handelt sich um eine Entwicklung des Systems selbst, welches in einer Blütezeit Auswüchse von Surplus und Verfeinerung produziert. Nicht um No Future, das nach Aufmerksamkeit schreit und als Mode ebenso schnell wieder verschwindet, wie es aufkam. Es geht hier um unmögliche Verballhornungen, um nicht-kompatible Elemente, die nicht zusammenpassen und sich gegenseitig abstoßen. Nicht um den Glanz des Spektakels, sondern die Kunst des Unwichtigwerdens. Um das Nebensächliche, das einfach nicht weichen will und weiterquengelt. Um ein unregierbares Elendsviertel, ohne Namen, ohne Identität oder Vorbildfunktion. Nicht um Rap oder Rock&Roll, die man nachahmen kann. Um unbeschwerte Einsamkeit. Auf eigene Faust herumwurschteln. Um eine rüde Leichtfüßigkeit, die ohne Wiederstandspose im Weg ist. Um eine gestylte Verzweiflung, die nicht als kulturell-politisches Programm decodiert werden kann, wohl aber Geschäftigkeit entfesselt. Um ein Chaos, das als Müll erkannt wird, dem jedoch kein Reinigungsmittel beikommen kann. Gegen das Definitive der Lösung gerichtet, geht es fröhlich weiter mit dem Verunreinigen der reinen Oberflächen. Das werden die Kennzeichen des Lebens sein.