VIRILIO CALLING "Time is a resource and we're running out of time. It is ne- cessary to travel, it is not necessary and becoming increasingly difficult to live. " W. Burroughs Mit dem Golfkrieg kam f¸r Paul Virilio die Kehre. Schon fr¸her hatten sich kleinere Prophezeiungen von ihm erf¸llt. Seine Schluþfolgerung, daþ jeder Staat, der dem inh”renten Trieb der totalen Kontrolle nachgibt, letztendlich dazu ¸bergeht, die eigene Bev–lkerung auszurotten, sah er zu seinem Schrecken in Pol Pots Kambodscha bewahrheitet. Aber erst Anfang der neunzi- ger Jahre muþte er konstatieren, daþ sich seine milit”r-tech- nologischen Analysen mondial bewahrheiteten. Ein paar Jahre vorher hatte er, auf Grund der franz–sischen Intervention im Tschad bemerkt, daþ ein k¸nftiger Weltkrieg sich nur noch in der W¸ste abspielen k–nnte. Als die Spionagesatelliten ¸ber den Irak man–vriert wurden und die neuen Koordinaten in die Leitungswaffen eingegeben wurden, wuþte er, daþ es wieder los gehen w¸rde. Aber, daþ seine spannenden Geschichten ¸ber die Entwicklung der modernesten Waffensysteme sich erneut als ric- htig herausstellten, war nicht das Schockierende an dem Ge- schehen. In den zehn B¸chern, die Virilio seit 1976 publiziert hat, entwickelte er seine These, daþ, wenn Geschwindigkeit fr¸her das Wesentliche eines Krieges war (Sun Tzu), heute Geschwin- digkeit gleich Krieg ist. Dieser wird aber nicht gegen den Feind gef¸hrt, sondern gegen die materielle Existenz der Welt. Je gr–þer die Beschleunigung, desto schneller verlischt die Realit”t. Die absolute Geschwindigkeit ist die des Lichts und alle Tech- niken, die das benutzen, sind absolute Waffen. Augenblickliche Kommunikationsmittel sind deshalb von apokalyptischer Art:"wer gesehen wird, ist get–tet worden". Wo aber die Medien fr¸her nur das Raum- und Zeitbewuþtsein aushebelten und dem menschli- chen K–rper seinen Halt nahmen, indem er zu durchstrahlbaren Lichtwellen transformiert wurde, w”hrend sie den K–rper, mit ihrer globalen Ðberinformation, gleichzeitig inert machten, wurde im Golfkrieg nicht nur derealisiertes Land verw¸stet, sondern wurde Information an sich unglaubw¸rdig. Desert Shield und Desert Storm wurden, in Virilios Chronolo- gie, gefolgt von Desert Screen. Die strategischen Entwicklun- gen, die den Golfkrieg in den arabischen W¸sten sichtbar mach- ten, vollziehen sich auch im zivilen Sektor. Weil ein General in seinem Bunker bleiben kann, um die Feldoperationen zu lei- ten, kann der Fernsehzuschauer vom Wohnzimmer aus seine Arbeit erledigen. Alle Information kommt auf der W¸ste des Bildschir- mes zusammen und strahlt von da wieder aus - der Inertiepol. Das Schauen-aus-der-Ferne, das Fernsehen von vorgestern, ist ersetzt worden von Agieren-auf-Distanz, der Teleaktion von heute und morgen, von teleshopping und homebanking bis Tele- pr”senz und Teletourismus in virtual reality. Nur, f¸gt Viri- lio in seiner Kriegschronik 'Krieg und Fernsehen' hinzu, ist es nun klar, was die Kommunikationswaffen wollen. Es ist nicht so, daþ, wer gesehen wird, tot ist, sondern, daþ wer zuschaut, blind wird. Wo Virilio die Geschichte der Kontrolle ¸ber die Auþenwelt immer wieder als eine Beschleunigung und Verfeine- rung der Wahrnehmungstechniken und ihrer Logistik beschrieb, stellt sich heraus, daþ mit dem Erreichen der Lichtgeschwin- digkeit von Informations¸bertragung die totale Faszination mit absolutem Unglauben zusammenf”llt. Was ist Information, wenn sie mit der gleichen Geschwindigkeit sowohl Publikum als auch Journalisten erreicht, ohne daþ eine Sekunde zur Kontrolle, Analyse, oder doublecheck bleibt?Die Nachrichten, die als Information ¸ber die Kommunikationswaffen der Medien durchkommen, k–nnen zu jeder Zeit Desinformation sein. Wenn Information eine Waffe ist, ist Desinformation der Panzer. Der Fernsehzuschauer glaubt seinen Augen nicht mehr. Wenn er das aber nicht mehr kann, warnt Virilio schon seit Jahren, wird die Welt, so wie wir sie kennen, verschwinden. Miþtrauen in die Medien bedeutet das Ende der Welt. Die zen- trale Frage des 'Krieg und Fernsehen' ist:"Kann man die All- gegenwart, die Unmittelbarkeit demokratisieren, oder:kann man Inertie demokratisieren?"F¸r Virilio ist Demokratie nicht m–g- lich ohne die Kategorien der L¸ge und Wahrheit, die momentan Platz gemacht haben f¸r 'aktuell' und 'virtuell'. Paul Virilio vertritt eine kritische, antimediale Position. Die live Schaltungen m¸ssen abgebrochen werden, damit die De- mokratie wieder hergestellt werden kann. F¸r V. fallen Medien zusammen mit Wahrnehmungstechniken und die sind alle Produkt der Milit”r Intelligenz. Die Entwicklung der Wahrnehmungslogi- stik - H¸gel, Turm, Luftballon, Aufkl”rungsflug, Satellit, Fernglas, Photokamera, Filmkamera, Video - verl”uft f¸r ihn parallel zur Entwicklung der Infrastruktur - Straþe, Gleis, Autobahn, Verkabelung, Luftkorridor, Orbit. Virilio kann nach dem Erfolg der industriellen Verkehrsrevolution keinen Unter- schied mehr zwischen Milit”r und Zivil feststellen. Beide In- stanzen stehen im Zeichen der Beschleunigung und bringen, jede auf eigene Art, das klassische Zeit-Raum Verh”ltnis durchein- ander. Beide haben die Lichtgeschwindigkeit als Endpunkt (la- ser) und beide machen aus der nat¸rlichen Landschaft der Welt eine W¸ste (glacis). Medien, betrachtet als Netzwerk, das von Wahrnehmungsmaschinen um die Welt gesponnen worden ist, bilden das gr–þte Hindernis, um Mensch und Welt zu kennen. Medien sind Objekt von Virilios Besorgnis. Dennoch m¸ndet sein absoluter Unfrieden nie in eine technikfeindliche Position. Die Rettung kommt von innen und w”re undenkbar, wenn man der Technik den R¸cken zukehrt. "Wenn man sich eingehend der Stu- die des Ungl¸cks widmen w¸rde, w¸rde Hoffnung schimmern". Die Erschlieþung der Sch–pfung verl”uft f¸r Virilio ¸ber die Rei- he: Schiffbruch, Aufprall, Zusammenstoþ, Entgleisung, Absturz, Explosion, Kurzschluþ, St–rung, Festfahren, crash. Wie die Computerhacker kombiniert Virilios Methode den Widerstand ge- gen technische Beherrschungsstrategien mit einem enormen Wis- sen und Faszination f¸r Ger”te. Anders als f¸r manche Foucaul- tianer, bedeutet f¸r Virilio Widerstand nicht gleich eine Ver- st”rkung des Systems, sondern ist eine notwendige Haltung, um zu Postwissenschaft zu gelangen. Seine Postwissenschaft ver- steht, 'daþ es ein Nicht-Wissen entwickelt und daþ jede Ent- wicklung von Wissen nur das Unbekannte vergr–þert. 'Die nicht- milit”rische Wissenschaften und Techniken, die Virilio vor Augen stehen, benutzen die Medien als Informationsstaubsauger, die Daten aus der Welt entfernen und vor allem klar machen, wieviel Nicht-Wissen in der Welt zirkuliert. Medien zeigen, daþ es nichts zu sehen gibt, alles andere ist Desinformation. Die datenfreien R”ume sind wie die Unf”lle, die eine Besinnung in Gang bringen:sie enth¸llen die Relativit”t. Auch Virilio kennt das antimediale Dilemma, daþ die Demokratie alle Verbindungen zu den Medien abbrechen muþ, aber ohne In- formations¸bertragung nicht existieren kann. Wenn alle Infor- mation verformt ist und Medien nur ein Nicht-Wissen verbreiten k–nnen, taucht die unvermeidbare Frage auf, worauf sich die Demokratie gr¸ndet. Diese Frage beantwortet V. mit der phy- sischen Wahrnehmung. Seine Perspektive begrenzt sich nicht auf ein Studierzimmer in Paris. Seit dem Ende des Kalten Krie- ges erscheint in allen Krisengebieten die Gestalt eines Beob- achters, der synonym mit dem Begriff Demokratie geworden ist. Nach einer Testphase bei dubiosen Wahlen in L”ndern der Drit- ten Welt wurde der Beobachter zu Truppen¸bungen von NATO und Warschauer Pakt, Waffenarsenalen, Kernkraftwerken, B¸rger- kriegen, Atomlabors und Fabriken f¸r C-Waffen entsandt. Wenn die Beobachter nicht zugelassen werden, steht man praktisch mit der Welt auf Kriegsfuþ. Die physische Anwesenheit der un- abh”ngigen Sachverst”ndigen garantiert den demokratischen Ge- halt der Intensionen und Praktiken. Die Satelliten k–nnen al- les registrieren auþer Demokratie und Menschenrechte. Diese beschr”nkten M–glichkeiten der Technik deuten an, wo die klas- sische Politik noch angesiedelt werden kann, seit die milit”- rische Beobachtung Transpolitik geworden ist. Daþ die Demokra- tie Dank ihrer Beobachter existiert, m¸þte in Virilios Augen als naiv zur¸ckgewiesen werden. Die Wahrnehmbarkeit der Welt hat so wohl mit Tarnung und Verheimlichung zu k”mpfen, als auch mit Perzeptionsproblemen von Seiten des Subjekts. Der Mensch ist nach Virilio kein sprachliches Wesen, sondern seine Handlungen werden von der Macht des implantierten Bildes be- stimmt. Mentale Bilder sind 'fragments of the public domain extendet into ourselves. '"Man muþ nicht in die National Gal- lery oder in das Louvre gehen, um Szenen des 18. Jhts zu se- hen. Man muþ nur morgens die Augen aufmachen und schon streift man in einem Museum der ¸berlebten Observationsmethoden und - stile herum". Die Wahrnehmung ist okkupiertes Terrain. Die negative Wahrnehmung entdeckt einen noch nicht koloniali- sierten Raum. Wenn das Bild der konkreten Objekte schon immer vorgeformt war, kann man nur etwas Neues sehen, indem man sich die Leere zwischen den Dingen anschaut. Wer nichts wahrnimmt, bleibt Sehender. In der Leere k–nnen wir noch observieren, daþ unsere Kultur tats”chlich am Verschwinden ist. Das Verschwin- den der nat¸rlichen Konturen der Landschaft, der Stadt, der Landesgrenzen, der politischen Gegner, der K–rper, des Zeit- faktors, des Intervalls und der Entscheidung bildet die Ge- schichte, die Virilio immer wieder verarbeiten muþ und der er viel Platz in seinem Oeuvre einr”umt. Das Umkrempeln der Wahr- nehmung erm–glicht es, das Verschwinden, das prinzipiell un- sichtbar ist, doch sichtbar zu machen. Immer wieder taucht Virilios Paradoxon auf:alles, wovor er warnt, betrachtet er gleichzeitig als unverzichtbar. Das 'ei- nerseits-andererseits Denken' sprengt nach beiden Seiten die Grenzen und –ffnet damit ein Feld der unvermuteten Denkm–g- lichkeiten. W”hrend Virilio das Verschwinden als Katastrophe f¸r Politik und Gesellschaft anklagt, lobt er es gleichzeitig als Erkenntnisprinzip und ”sthetische Methode. Virilio sieht in den kurzfristigen Momenten geistiger Abwesendheit, die jeder jeden Tag erlebt, sowohl eine ungehemmte Phantasie, als auch eine einschr”nkende Vernunft entstehen. Das Verschwinden der bewuþten Anwesendheit regt dazu an, um die verpaþten Frag- mente auf kreative oder festgesetzte Art auszuf¸llen. Virilio benutzt diese piknoleptische Gabe wie kein anderer. Virilio lesen, heiþt:sehen, was unsichtbar war, interpretie- ren, was nie geschrieben worden ist. Die Leere, die Zwischen- r”ume, das Schwarze zwischen den Bildern, Virilio ist der Den- ker der Abwesendheit, des Verschwindens, der Negativit”t, der Zukunft. Erst wenn man das Unsichtbare wiedererkennt, das vom Sichtbaren verdeckt wurde, kann man die Welt sehen. Virilio hat die Gabe eines Hellsehers im Zeitalter der absoluten Transparenz. Das Unsichtbare ist das Material, das Virilio untersucht, seine Herausforderung, die Frage, die er dem Den- ken stellt:findet diese Welt. Wenn alles sichtbar w”re, wissenschaftlich sichtbar, permanent veri- bzw falsifizierbar, gibt es f¸r uns keine M–glichkeit mehr, ein zusammenh”ngendes Weltbild zu kreieren. Zusammenhang ist nur m–glich Dank der Abwesendheit von Information, der Notwendigkeit, selbst Bez¸ge, ¸ber die Abwesenden, die Zwi- schenr”ume, die Intervalle hinweg, herzustellen. Virilio ist gegen Desinformation, aber Bef¸rworter von zeitweiligen, in- formationsfreien Zonen. Einsicht ist nur m–glich, indem man hin und wieder nichts sieht. Das negative Denken bleibt nah an den K–rpern. Die Aussicht auf den Tod ¸bersetzt es in die Strategie, jede gesellschaft- liche Entwicklung zu Ende zu denken. Das Jetzt wird nicht in die Zukunft extrapoliert, sondern es wird erfreut festge- stellt, daþ auch das Kommende wieder vorbei ist. Der Untergang steht uns nicht bevor und die Spuren der Apokalypse k–nnen hier und da angetroffen werden. Als Denker von '77 ist die radikale Negativit”t f¸r Virilio ein nat¸rlicher Ausgangs- punkt. Der no-future Gedanke bot damals einen Ausweg aus dem Kalten Krieg, indem er die These aufstellte, wir h”tten den 3. Weltkrieg schon hinter uns und man sollte sich nicht von der Perspektivfrage einsch¸chtern lassen. Das neue Richtmaþ wurde die physische Kondition, "das R”tsel, daþ es lebendige K–rper gibt, die, seltsamerweise, in der Zeit anwesend sind. "Das negative Denken zieht die gesellschaftlichen Prozesse nach innen und betrachtet die Effekte auf das eigene Wohlbefinden. Ob der K–rper auf dem Inertiepol sich aufl–st oder zur¸ck- schl”gt, ist eine Entscheidung, die nach '89, wieder v–llig offen ist. Die erstaunlichen Verbindungen, die Virilio in sei- nen B¸chern herstellte, wurden pl–tzlich von den Kettenreak- tionen im milit”r-politischen Raum ¸bertroffen. Die aktuellen Ereignisse ¸berholten die Dromologie und zwangen die live- Theorie zu einem Moment der Besinnung. Das Ehemalige wird nie zur¸ckkehren und das Neue kann nicht planm”þig eingef¸hrt wer- den. Der Kontrapunkt der Negativit”t ist ins Treiben gekommen. Demokratie war von Anfang an die Voraussetzung, unter der das dubiose Denken seiner schonungslosen Systemkritik fr–nen konn- te. Jetzt zeigt sich, daþ Demokratie ohne Abschirmung und Aus- sperrung nicht m–glich ist und tritt ihre moralische Pleite zutage. Mit dem Entfallen einer sicheren Heimbasis ist es die Aufgabe der Negativit”t, ein neues Richtmaþ zu finden, ohne in positi- ven Vorschl”ge zur¸ckzufallen.