Internetkritik-“Abschalten ist keine Lösung” Interview mit Geert Lovink

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/netzkritik-interview-mit-dem-internetkritiker-geert-lovink-a-1289570.html

Wir sind online, immer und überall. Was macht das mit uns? Der Internetpionier Geert Lovink über programmierte Traurigkeit, gewollte Facebook-Abhängigkeit – und warum er nicht wegschauen kann.

Ein Interview von Jan-Paul Koopmann

SPIEGEL: Herr Lovink, viel von dem, was Internetpioniere vor Jahrzehnten in der Nische durchgespielt haben, ist heute digitaler Alltag für die ganze Gesellschaft. Trotzdem schreiben Sie in Ihrem neuen Buch, die Netzkultur stecke in der Midlife Crisis. Was läuft denn schief?

Lovink: Es ist nicht viel von dem geblieben, was wir damals aufgebaut haben. Das sogenannte öffentliche Internet hat sich als ein schrumpfendes Universum herausgestellt. Das Silicon Valley – Google, Facebook, Amazon und so weiter – saugt heute sehr viel Aufmerksamkeit auf. Wir haben lange gedacht, dass es da nur Inhalte geht, um Content. Aber die Firmen haben auch einen enormen Einfluss auf die Internetstruktur selbst.

Lovink: Das Gebiet, über das die Netzkritik überhaupt noch reden kann, wird zumindest relativ gesehen immer kleiner: Die privaten Plattformen wachsen und wir haben keinen Einfluss auf das, was Facebook tut. Diese Firmen werden nicht öffentlich reguliert, sie werden ja nicht einmal systematisch archiviert.

SPIEGEL: Daran hängen ja auch handfeste politische Fragen, wenn Parteien etwa auf Twitter Wahlkampf machen oder der US-Präsident Außenpolitik. Warum ist das für die Netzforschung so schwer zu fassen?

Lovink: Das Problem ist, dass der Ausgang vieler laufender Entwicklungen noch nicht ersichtlich ist. Unsere Arbeit ist sehr mühsam geworden, weil wir das Netz im Ganzen nicht mehr von Innen studieren können. Und wir haben keine Alternativen zu Facebook oder Google entwickelt. Diese Idee von vor zehn oder 15 Jahren funktioniert nicht mehr, dass irgendwann wieder ein neuer Dienst wieder aufkommt und die anderen ablöst so wie einst etwa Facebook MySpace. Wir haben zu lange daran geglaubt, dass die Leute irgendwann die Schnauze voll haben und eben woanders hingehen.

SPIEGEL: Auf Facebook oder Twitter schreiben Nutzer durchaus häufig, dass sie auf Erregungsspiralen keine Lust mehr haben.

Lovink: Ja, aber sie wissen nicht, wie sie da noch rauskommen können. Das ist der Lock-in-Effekt. Die Leute stecken fest und können mit ihrer emotionalen Energie nichts mehr anfangen, als sie in die Plattformen selbst zu stecken. Und dann gibt es diese Shitstorms, die Trolle und so weiter. Irgendwann implodiert das alles.

SPIEGEL: Sie sprechen von “digitalem Nihilismus”.

Lovink: Statistiken zeigen, dass außerhalb der Plattformblasen immer weniger geschieht, Menschen sich real deshalb nicht mehr selbstwirksam fühlen. Das verursacht eine Kultur von Indifferenz. Es ist allerdings sehr unterschiedlich, wie die Menschen genau darauf reagieren. Wir sind nicht alle Trolle, wir sind nicht alle traurig und wir sind nicht alle depressiv. Nihilismus ist hier ein Sammelbegriff, ich rede über eine große Palette an Gemütszuständen.

SPIEGEL: Was genau haben denn Ihre Forschungen ergeben?

Lovink: Ich habe sehr viel mit jungen Menschen gearbeitet, um zu verstehen, warum sie nicht mehr wegkommen – was sie immer wieder reinzieht, wenn sie auf dem Telefon tippen. Wir beginnen etwa, die Taktiken der Firmen zu analysieren, die Stimmungslagen gezielt beeinflussen, damit die Jugendlichen länger online bleiben und schneller wieder zurückkommen. Das gesellschaftliche Empfinden ist in gewisser Weise auch ein Produkt von Softwareentscheidungen, eine programmierte Traurigkeit.

SPIEGEL: In der Pädagogik wird gerade bei Jugendlichen oft von Sucht gesprochen, wenn es um entgrenzte Netznutzung geht.

Lovink: Na ja, das ist eine Gefahr. Und es ist auch gut, darüber öffentlich zu reden. Aber es gibt 2,8 Milliarden Facebook-Nutzer – und die sind nicht krank. Zu sagen, dass die einfach süchtig wären, funktioniert in diesen Größenordnungen nicht mehr. Aber was ist denn, wenn wir nicht mehr über Abhängigkeiten im medizinischen Sinne sprechen? Dann wird es spannend! Die soziale Medienabhängigkeit von Hunderten Millionen Menschen ist technisch induziert und gewollt – genauso könnte sie aber auch auch behindert werden.

SPIEGEL: Es gibt aber umgekehrt auch immer mehr Nutzer, die sich überfordert fühlen und “digitales Fasten” vorschlagen. Hilft das nicht?

Lovink: Es ist sehr gut, dass immer mehr Menschen die Überforderung erst mal anerkennen. Aber Abschalten ist keine Lösung. Erst recht nicht, wenn man aus der Generation kommt, die diese Systeme mit aufgebaut hat. Wir haben als Pioniere noch mal eine andere Verantwortung – gerade weil es ja so viele junge Leute gibt, die anders kommunizieren würden, ohne permanent ausgesaugt und überfordert zu werden. Wer trägt die Verantwortung? Diese Frage ist nach wie vor unbeantwortet. Und wir müssen da selbst ran, Regulierungen durch die Politik werden uns nicht weiterhelfen.

SPIEGEL: Ihre Bestandsaufnahme klingt sehr pessimistisch. Aber haben Sie auch Hoffnung?

Lovink: Ja natürlich. Ich bin Aktivist, ich komme aus der Hackerszene. Wir haben uns immer gefragt: Was können wir tun? Und wir arbeiten ja auch heute weiter an alternativen Systemen. Aber wir müssen uns eben auch klar werden über die Gesamtsituation, die in der Tat nicht gerade fröhlich ist. Wir können nicht einfach wegschauen und weiterhacken.

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