Eine kritische Außenposition ist zwecklos: Interview Geert Lovink von Jan Ole
(Dies hier ist die Langfassung. Die Kurzfassung ist abgedruck in der analyse&kritik Papierausgabe ak 566 von 18.11.2011. /geert)
Jan Ole: Hast du dir mal die Webseite von ak angesehen? Nicht unbedingt das, was man einen angemessenen Umgang mit dem Internet nennen würde, oder?
GW: Altmodisch, Schnee von gestern, darum geht es doch gar nicht. Momentan ist die Webseite »txt only« und sieht aus wie ein Onlinearchiv. Im Grunde ist daran nichts falsch; ihr solltet aber nicht die Erwartung hegen, dass viele Leute dort Zeit verbringen. Das Problem ist, dass das Web eben mehr ist als eine Fundgrube für die Inhalte von gestern. Womit verbringen die Nutzer ihre kostbare Zeit? Die Webseite ist derzeit nicht visuell und hat keinen Bezug zu den Echtzeitmedien, die die Leute für ihre Alltagskommunikation benutzen. Versteh mich nicht falsch, es geht mir nicht darum, eine Anbindung an Facebook oder Twitter anzupreisen.
Wir haben ja gerade eine globale Kampagne für Alternativen in diesem Bereich gestartet (namens Unlike Us). Im Netz geht’s darum, das zu machen was ihr immer schon tut – aber das richtig. Wenn bei ak Hintergrund, Kritik und Auseinandersetzung zentral sind, sollte man sich damit befassen, wie diese Art von Diskurs im Netzkontext geführt wird und sich an die neuen Möglichkeiten angepasst hat. Meine Empfehlung wäre: Ihr solltet nicht versuchen, ein Nachrichtenportal nachzuahmen, sondern die eigenen Inhalte und Diskussionen in den Vordergrund stellen. Konkret könnte das heißen: Schaut euch an, was zum Beispiel die so genannte Forumsoftware für ak bedeuten könnte (viel benutzt im deutschen Kontext), und betont die Kommentarebene. Oder soll es doch eher ein Blog sein? Bringt die eigenen Experten rein und versucht, die Auseinandersetzungen so zu »gestalten«, dass sie neue Zusammenhänge generieren. Was darüber hinaus gemacht werde könnte, ist das ganze richtig zu taggen und zu kategorisieren, damit die »Findbarkeit« über Suchmaschinen verbessert wird.
JO: Als ak gegründet wurde, waren linke Zeitungen oft Parteiblätter, sie sollten agitieren und organisieren. Auch die Idee von Gegeninformation und – öffentlichkeit spielte eine große Rolle. Heute gibt es zahllose Möglichkeiten, sich zu informieren und auszutauschen. Was wäre eine Aufgabe, die sich ein »linkes Medium« stellen sollte?
GL: Das Konzept Gegeninformation ist genug kritisiert worden. Worauf es ankommt, ist unzeitgemäß zu werden, das heißt Themen zu beackern, die woanders (noch) nicht angesprochen werden. Was an »Gegeninformation« nicht stimmt, ist die Idee, dass wir nicht wissen, was wirklich los ist. Das ist eine pedantische und falsche Vorstellung. Ich stecke in einen anderen Informationszusammenhang. Der andere ist nicht blöd und muss nicht überzeugt werden. Im Netz gibt es kein Informationsdefizit, sondern ein Suchproblem. Wie organisieren wir gemeinsam die Information, die für uns wichtig ist? Worum es geht, ist besser zu verstehen, weshalb sich in bestimmten Kontexten nichts tut und warum die gängigen Strategien nicht mehr funktionieren. Was spricht junge Leute an? Wie entsteht Occupy Wall Street? Welche Sprache, Musik, Ästhetik wird benutzt? Es geht dabei nicht so sehr um Pop, schon gar nicht um Popkultur oder, noch schlimmer, um Populismus. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir gerne lesen, wie wir heutzutage diskutieren und wie das in einem interaktiven Design umgesetzt werden kann.
JO: Wir setzen noch immer auf längere Artikel und Papier. Ist das nicht überholt?
GL: Nein, überhaupt nicht. Was doch in der gängigen Medienlandschaft fehlt, sind eben diese Hintergrundberichte, Essays, längere Interviews, Reiseberichte und das, was »investigativer Journalismus« genannt wird (und im deutschen Kontext immer mit dem Spiegel in Verbindung gebracht wird). Was vielleicht langweilt, sind ideologiekritische interne Auseinandersetzungen über die richtige Linie und die Ausschweifungen dissidenter Genossen, also eine hermetische, ausschließende Sprache. Viele wissen, dass die Marxsche politische Ökonomie wieder aktuell ist. Sie braucht aber auch ein Update. Es reicht doch nicht zu sagen, schau mal, wir hatten doch recht.
Es gibt jetzt einen anderen Arbeitsbegriff, es gibt Ökologie, Feminismus, aber auch eine extrem gewachsene Finanzwelt – und eben die Medien und die Netze. Es geht überhaupt nicht um Papier versus digital, oder lang versus kurz. Klar macht es uns Spaß, Slogans zu erfinden und sie groß auf die Wände zu projizieren. Aber diese Sprüche kommen doch irgendwo her, oder? Denken und Reflektion braucht Zeit und Material. Aphorismen à la Twitter sind, richtig gemacht, konzentrierte Erfahrungen. Ob Twitter aber für Diskussionszwecke genutzt werden kann, bezweifele ich (es ist durchaus möglich).
JO: Wie hat das Internet die Art, wie wir kommunizieren und uns informieren, wie wir die Welt sehen, verändert?
GL: Von der Gutenbergpresse wissen wir es. Auch von der Revolution im Druckwesen seit Mitte des 19. Jahrhundert. Ebenso für Film, Radio und Fernsehen. Telefon. Warum ist es also so unklar im Falle von PC und Internet? Mich wundert die Frage einfach. Erstens gibt es eine (weitere) Beschleunigung der Kommunikation. Zweitens gibt es viel mehr (automatisierte) Rückschleifen. Wir müssen die ganze Zeit zeigen, dass wir noch existieren, was wir denken und vorhaben. Dieses Element ist für die Linke das größte Problem. Es so einfach zu denken, wir werden passiv gemacht und dann vollgestopft mit bösen Ideologien. Neue Medienmacht funktioniert aber anders. Was da zählt, ist die aktive Beteiligung – nicht das Vollstopfen leerer Köpfe.
JO: Wird das Internet in Kairo anders genutzt als in New York?
GL: Durchaus. Der große Unterschied liegt in der enormen Dichte der Telekominfrastruktur in New York. In Kairo gibt es auch eine Menge Nutzer sozialer Medien, aber das Netz erreicht nur eine Minderheit, derzeit etwa 20 Millionen Leute in ganz Ägypten. Ob das Netz in den zwei Weltstädten tatsächlich unterschiedlich benutzt wird, ist fraglich. Leute schreiben Emails, benutzen Facebook und Twitter, suchen über Google oder Yahoo!, und sie spielen World of Warcraft, schauen sich Nachrichtenseiten an, Videos bei YouTube, Porn und Fußball oder auch Datingseiten. Ein Unterschied ist derzeit noch die Deckungsrate des mobilen Internets. Zwar haben in Kairo viele Leute ein Handy, aber das ist meist kein iPhone oder BlackBerry. Ob das aber ein riesengroßer Unterschied ist, bezweifle ich.
JO: Du hast vor kurzem in einem Interview gesagt, es gebe kein Verständnis von dem, was um uns herum passiert. Wir bräuchten eine Netztheorie, die das Medium ernst nimmt. Kannst du das genauer erklären?
GL: Viele haben bisher geglaubt, das Internet sei bloß Hype und Kommerz, das ginge schon vorbei. Das gilt nicht nur für Aktivistenkreise und große Teile der 68er Generation, sondern auch für viele Medienwissenschaftler. Die potenziellen Veränderungen, die die allgemeine Einführung vernetzter Kommunikation mit sich bringen, werden immer noch nicht bewusst wahrgenommen, vor allem nicht von denen, die es professionell angeht. Das sehen wir auch in der deutschen Medientheorie die sich viel zu lange mit großen metaphysischen Grundkonzepten rumgeschlagen hat. Leider gehörten Begriffe wie Netz oder Netzwerk nicht dazu. Viele halten nach wie vor an der visuellen Natur der Medien fest. Das Soziale wird nicht mitgedacht. Aber wichtiger noch als solche generellen Theoriedefizite ist derzeit die Unfähigkeit, die neue Generation kritisch zu begleiten. Um das zu tun, muss man Bescheid wissen. Eine kritische Außenposition ist zwecklos.
Theaterkritiker zum Beispiel müssen doch auch verstehen, worum es bei Brecht oder Schlingensief geht. Was bringt es, wenn ein Filmkritiker sagt, mich interessiert das Medium nicht, ich gehe nie ins Kino und schaue mir keine Filme an. So ist es beim Internet auch. Eine netzrelevante Theorie erwächst nicht aus der Hegel-, Marx- oder Heideggerlektüre, sondern sie muss aus der Technologiepraxis kommen.
Ich möchte hier nicht antitheoretisch oder antigeschichtlich argumentieren, aber es ist klar, dass wir dringend ein neues Theorieverständnis brauchen, vor allem in Deutschland. Zu lange haben wir auf Paris geschaut, aber da tut sich schon lange nichts mehr. Worum es geht, ist kritische Konzepte mit einer ebenso kritischen Entwurfspraxis zu verbinden, auch im Unterricht. Der vor kurzem viel zu jung verstorbene Medientheoretiker Friedrich Kittler hat immer von Geisteswissenschaftlern gefordert, sie sollten alle programmieren lernen, also die neue Sprache des 21. Jahrhundert sprechen. Dies könnten wir auch von Metamarxisten und anderen Kapitalismuskritikern verlangen, die sich für eine Renaissance der Politischen Ökonomie einsetzen. Ein wichtiges Detail, das da noch geklärt werden muss, ist der Stellenwert der englischen Sprache und die Art, wie wir Übersetzungen organisieren. Derzeit ist man (in Deutschland und anderswo) noch viel zu abhängig vom Zeitungs- und Verlagswesen. Die deutsche Kritische Theorie, die so gefragt wäre, aber leider abwesend ist, muss da sich selbst engagieren und nicht wie jetzt passiv abwarten bis irgendeine Instanz das macht.
JO: Prekäre Arbeitsverhältnisse und das Internet sind zwei Phänomene, die sich gleichzeitig ausgebreitet haben. Siehst du einen Zusammenhang?
GL: Ein Zusammenhang, nein. Ein komplexes Feld, ja. Dann würde ich allerdings auch den Mauerfall, die Globalisierung, den Neoliberalismus, die Militärforschung während des kalten Krieges, Individualisierung und Wissensgesellschaft hinzufügen. Prekäre Arbeitsverhältnisse gibt es in jeder Branche.
JO: Vor zwei Jahren schrieb die Hamburger »Bürogemeinschaft 9to5« in unserer Zeitung: Anders als allgemein angenommen sind die Prekären keineswegs isoliert, die sozialen Beziehungen wuchern exzessiv, bei Facebook, bei StudiVZ, bei Twitter. Diese Verbindungen seien die Grundlage für eine neue Kollektivität und Widerständigkeit. Teilst du diese Einschätzung?
GL: Durchaus. Das Problem ist aber die Vielfalt der schwachen Verbindungen. Dies ließe sich aber auch lesen als eine naive, erste Phase, in der wir alle noch drinstecken. Wir entdecken den Großraum Internet, die gesamte Galaxie, genauso wie wir Mitte der 1990er Jahren das Surfen im Netz entdeckt haben. Viel wird uns aber diese astronomische Sichtweise nicht bringen. Wichtiger ist die Frage, wie diese Technologie im Alltag eingesetzt werden kann. Ich sage damit nicht, dass die globale Großdimension unbedeutsam wäre oder dass wir uns alle auf unsere lokale Umgebung konzentrieren sollten. Wofür Ned Rossiter und ich uns mit dem Begriff organisierte Netze (organized networks) einsetzen, sind tools for strong ties.
JO: Das heißt?
GL: Die Software soll uns besser helfen, im Alltag die vielen Aufgaben zu meistern, im lokalen und sozialen Umfeld, und uns Filter zur Verfügung stellen, damit wir bestimmen, was wichtig ist – nicht der Staat oder Facebook.
JO: Welche Rolle spielt das Internet in den Protesten und Revolutionen dieses Jahres?
GL: Insider machen daraus ungern einen Hype. Eindeutig spielen soziale Medien eine Rolle, aber es ist wichtig zu betonen, dass das Netz diese Bewegungen nicht erfunden hat. Es gibt keinen Ursprung im Netz. Viele Repräsentanten der Presse mögen es aber, diesen Mythos zu verbreiten, um es dann später zu denunzieren. Auch die an sich richtige Dekonstruktion dessen wird langsam mühselig. Evgene Morozov hat zwar eine schöne Analyse der Erwartungen in westlichen Regierungskreisen geschrieben (namens The Net Delusion), aber so eine Kritik bringt nicht viel für die, die gerade mitten in der Mobilisierung stehen. Utopiekritik war und ist immer angesagt, aber was wir jetzt brauchen, sind soziale Laboratorien. Raus mit den Computern auf die Straße! Das so genannte Virtuelle und Reale stehen nicht im Widerspruch, die heutige billige Elektronik macht vieles möglich. Denk nur an das Protestportal Occupy Together und das weltweite Onlinefernsehen von unten Global Revolution. Denk mal darüber nach, was wir mit sowas wie Skype machen können! Viele wissen nicht mal, dass sie Radioreporter geworden sind weil sie die Audiofunktionen ihrer Smart Phones noch nicht richtig entdeckt haben. Klar müssen wir etwas zu berichten haben. Aber das ist jetzt doch kein Problem mehr, oder?
JO: Wie hat sich das Internet in den letzten Jahren verändert?
GL: Global gesehen hat das Internet jetzt über zwei Milliarden Nutzer. Das Wachstum kommt vor allem aus Asien, aber auch Lateinamerika und Afrika. Klar ist die Internetfreiheit bedroht, sowohl von Großfirmen als auch von westlichen Regierungen. China nimmt da eine interessante Position ein, weil deren Firewall Technologie, mitentwickelt von westlichen Firmen, derzeit in alle Welt exportiert wird. Die großen Themen sind derzeit Netzneutralität, Zensur und Überwachung und die nicht besonders gut verstandenen Strategien von Firmen wie Google und Facebook. Komischerweise gibt es also besonders viele Möglichkeit für Widerstand und gleichzeitig die Gefahr, dass wir dieses einmalige globale Medium für alle versauen. Wenn das Internet in der jetzigen Form verschwindet, können wir nicht davon ausgehen, dass es irgendwann mal in ähnlicher Form wieder auftaucht. Dafür ist die Grundstruktur zu instabil. Deswegen auch der Aufruf an alle, sich massiv daran zu beteiligen, die Internetfreiheit zu verteidigen und aktiv zu gestalten.
JO: In einem schon etwas älteren Lied gibt es diese Textzeile: »Durch die ständige Reizüberflutung wird der Alltag viel intensiver, die Gehirne finden das super und werden viel kreativer.« Stimmt das? Oder raubt uns die ständige Reizüberflutung den Atem?
GL: Ich habe dazu so meine Privatmeinung, aber das Problem ist, dass ich kein Gehirnforscher bin und auch nicht werden möchte. Ob das Gehirn flexibel ist, oder ob die intensive Nutzung neuer Medien zu Konzentrationsproblemen führt, kann ich nicht empirisch nachvollziehen. Aber es ist eindeutig die große Internetdebatte. Leute wie Nicholas Carr, Frank Schirrmacher, Sherry Turkle aber auch der französischen Philosoph Bernard Stiegler äußern sich dazu. Ich plädiere für eine autonome und freie Sichtweise, die ohne Medizinwissenschaften auskommt. Es wäre ein Drama, wenn Doktoren und Neurobiologen unsere (Medien-)Kultur bestimmen würden. Ich stimme mit Peter Sloterdijk überein dass es um tägliche Übung geht. Wir müssen die Technologie selbst meistern. Also weder Offline-Romantik oder staatliche Begrenzungen, sondern mehr kollektives Selbstvertrauen.