Interview mit Geert Lovink von Sophie Gnesda (Wien)
Soziale Medien als blinder Fleck der Medientheorie
SG: Zusammen mit Anna Munster haben Sie den Begriff der „distributed aesthetics“ im Zusammenhang mit den Sozialen Medien und ihrer ästhetischen Wirkung entwickelt. Wie würden Sie den Begriff kurz beschreiben?
GL: In meinem Buch Zero Comments, das auch auf Deutsch vorliegt, habe ich diesen Begriff ausführlich erklärt. Warum es kurz gesagt geht, ist, dass Netze nicht nur als ‘visuelle Medien’ gesehen werden koennen. In Deutschland heißt diese Tendenz ‘Bildwissenschaften’ (engl. visual culture oder visual studies). In den neunziger Jahren gab es diese Idee, man könne über die Benutzerobenflächen besser verstehen, wie die ‘neue Medien’ funktionieren. Das ist aber nur teilweise der Fall. Was da nicht mitgedacht wird, ist nicht nur den Code level sondern auch das Soziale, die Vernetzungsebene der Benutzer. Und so wird Facebook ein blinder Fleck. Viele Prozesse heutzutage sind abstrakt und gesteuert durch Algorythmen. Klar können wir sie visualisieren aber oft entsteht so ein recht flaches und reduziertes Gesamtbild von dem was da stattfindet, zum Beispiel innerhalb Facebook oder Twitter. Dieser Informationfluss ist eben das, was unsere Kondition im Moment bestimmt. Die ist nicht so leicht einzukapseln. Deswegen haben wir sie ‘distributed aesthetics’ (oder verteilte Ästhetik auf Deutsch) genannt. Es spielt sich nicht an einem Ort ab und dreht sich nicht länger um visuelle Repräsentation.
SG: Trifft diese Begrifflichkeit nach Ihrer Definition auch auf YouTube und andere Video-Marketing-Möglichkeiten zu? Wenn ja, betrifft „distributed aesthetics“ YouTube in seiner Gesamtheit oder auch einzelne Videos und Kommentare?
GL: Klar. Online Videoportale wie YouTube existieren gar nicht ohne den Input der Nutzer. Was sie versuchen, ist uns alle zu verführen die Videos zu kommentieren, weiterzuschicken, zu verlinken, empfehlen, ‘liken’ und so weiter. Es geht YouTube ja nicht um die Videos, die visuellen Inhalte oder gar die Ästhetik. Was hier generiert und weiterverkauft wird, sind sozialen Beziehungen zwischen Menschen untereinander, und noch wichtiger, mit den Brands.
SG: Im Bezug auf Facebook hält sich digitale Kommunikation und ästhetische Bildpraktiken die Waage und auch der Begriff der „distributed aesthetics“ ist hier sehr gut anzuwenden. Inwieweit ist dabei eine Analyse der Individualität möglich?
GL: Gute Frage. Ich moechte hier einen Unterschied zwischen der Produktion von Subjekten und Subjektivität als Machteffekt machen – und die ethisch-strategische Frage danach, was der Einzelne (als Benutzer) machen kann. Wieviele Freiheitsgrade gibt es in Facebook? Gibt es überhaupt sowas wie Autonomie (oder auch nur ansatzweise)? Was ist der Status des Individuums in einer Zeit wo wir nur als Produktionstier und Produkt unserer eigenen Daten gesehen werden? Sollten wir zum Biespiel den Ernst Jüngerschen Gestalt des Anarchs wieder beleben? Muss es wirklich so sein das der Anarch, genau so wie wir den Deutschen Romantik immer so gerne erfahren möchten, eine strikte offline Figur ist oder kann es auch Monaden innerhalb des Netzes geben in denen sich Autonomie gelebt werden kann?
SG: Bei Twitter überwiegt hingegen die Seite der digitalen Kommunikation. Kann man dies ästhetisch auf irgendeine Weise fassen? Bzw. inwieweit finden Sie den von Manovich geprägten Begriff der „Info-aesthetics“ hier zutreffend?
GL: Die Infoästhetik bei Twitter ist eher karg und mit ASCII vergleichbar. Natuerlich gibt es wunderbar schöne und schockierende net.art, die gerade so reizvoll ist, weil sie so elementar ist. Bei Twitter koennten wir sogar sagen: mache es noch einfacher in Richtung ‘chat interfaces’.
SG: Meinen Sie die Betrachtung von „chat interfaces“ in Form einer analytischen Aufbereitung, der stattfindenden Kommunikation?
GL: Beides. Immer mehr werden informelle Kommunikationsflüsse aufgenommen, nicht weil wir sie aufbewahren möchten sondern weil das den technischen default ist. Das gilt für text messaging (SMS) genau so wie für ping, oder old school IRC, Diskussionen auf Blogs und Foren oder eben auf YouTube wo auch besonders viel geschwätzt wird. Natürlich können wir diesen Onlinedialogen auch interpretieren aber das machen bisher nur noch die wenigsten. Visualisieren wäre eine Möglichkeit aber das macht nicht immer sinn. Also müssen wir sie lesen… 466 Kommentare hier, 14.834 emails dort, viel spass!
SG: Nach welchen Kriterien würden Sie am ehesten ein Soziales Medium auf seine Wirksamkeit in Sachen Kulturvermittlung untersuchen?
GL: Die Frage könnte in zwei Richtungen beantwortet werden. Die Wirksamkeit von sozialen Medien ließe sich von der auto-poetischen Fähigkeit einer Herstellung eigener Kultur ableiten. Ob Facebook im traditionellen Kulturbereich eine so große Rolle spielt, bezweifle ich. Facebook und Theater? Ja, warum nicht? Aber das ist im Grunde nicht anders als die Facebook und Blumenverkauf Thematik.
SG: Was halten Sie allgemein vom neu aufkommenden Social Media Marketing? Sehen Sie es – in Anbetracht des 6. Kulturpolitischen Bundeskongress netz.macht.kultur – als eine sinnvolle Möglichkeit für den Kulturbereich ihre Inhalte zu vermitteln?
GL: Ja, aber wie gesagt, ist der Kulturbereich nicht ganz so anders als andere Bereiche. Interessanter wird es, wenn über die einfache Benutzung für Marketingzwecke hinausgegangen wird. Kann Facebook auch benutzt werden um Konflikten auszulösen? Sind groß angelegte Diskussionen möglich? Wie fassen wir bestimmte Ergebnisse zusammen und transportieren sie in andere mediale Zusammenhänge?
SG: Inwieweit sind Blogs für Sie ebenfalls Träger von Social Media Marketing?
GL: Blogs sind erstmal technischen Vermittlungskanäle für die einzelne Stimme. Ob der Blogger als Benutzer sich selbst die Aufgabe gestellt hat das eigene ‘Selbst’ als Produkt zu vermarkten, ist durchaus möglich, aber ist bestimmt nicht das ‘Wesen’ der Blogsoftware. Das wäre die Notiz, den Verweis, die Empfehlung, der Link, und natürlich die autobiografische Reflexion. Facebook und Twitter bauen sozusagen einen sozialen Schirm um diese Onlinenotizen. Im Web gibt es unterschiedlichste Dokumente aber erst durch die Sozialen Medien werden diese ‘toten’ Daten lebendig gemacht. Die Frage bleibt aber: sind alle Formen von sozialer Medienbenutzung Marketing oder gibt es auch Kommunikationsformen, die sich jenseits der Verkaufslogik abspielen? Umsatzfeindlich muss es ja nicht sein. Es geht hier nicht um die Negation von Umsatz und Gewinn. “Ich denke, also verkaufe ich.” Sind alle Überlegungen, die wir ins Netz stellen wirklich dieser Logik unterstellt? Es ist ja ganz einfach zu sagen, die richtige, reine, menschliche Kommunikation ist frei von der Marktlogik. Wäre schön, aber stimmt das in Zeiten von Google und Facebook noch?