Interview about the Berlin net.art scene in the early 90s (in German)

Interview mit Geert Lovink im Rahmen des Projekts ‘Frühe Netzkunstszene in Berlin der frühen 90er Jahre’

Von Laura, Lara, Denise und Nicole

A group of students at the University of Arts Berlin that are part of the seminar Genealogy of MediaThinking of Professor Siegfried Zielinski sent me a few questions, in German, on the early 90s net.art scene in Berlin. It is part of a project for Transmediale 2016.

Q: Wie kam es zu der Bekanntschaft zwischen Pit Schultz und Dir und was bildete die Initiationszündung dafür, dass ihr 1995 gemeinsam die Mailingliste nettime ins Leben gerufen habt? Welche Rolle spielte das Berliner Umfeld bei der Gründung von nettime?

A: Dank der Gastfreundlichkeit der Bewohner der Potsdamer Straße 130 habe ich 1983-84 und 1990-91 jeweils ein Jahr in Berlin gewohnt. Um 1991 begegnete ich ständig Kollegen aus dem Medienkunst- und Medientheorieumfeld. Im gleichen Jahr erschien die deutsche Übersetzung von der Bewegungslehre (Edition ID-Archiv, übersetzt von Christian Umverzagt) und gemeinsam mit Arjen Mulder habe ich damals eine erste Deutschlandtour gemacht. Als die deutsche Übersetzung vom Medienarchiv beim Bollmann Verlag erschien, haben wir das dann Anfang 1993 wiederholt. Pit Schultz hat damals die Abschlussveranstaltung in Berlin organisiert und da haben wir uns dann das erste Mal getroffen. Die Organisation dieser Tour hat damals Andreas Kallfelz (Verein 7.07) aus Frankfurt am Main gemacht, der Pit kannte. Andreas war damals sowieso eine Schlüsselfigur, da er auch bei The Thing mitmachte. Seit Langem ist er mein Übersetzer und wir sehen uns immer noch oft. Wie so viele ist er damals auch nach Berlin gezogen. Ohne The Thing hätte es meines Erachtens nach nie nettime gegeben, genauso wie man behaupten könnte, es gäbe keine Netzkultur ohne Mailboxszene. The Thing war ja auch ein Bulletin Board System. So habe auch ich angefangen. Zwar machte ich meine erste Erfahrung mit dem Internet im August 1989 im Amsterdamer Paradiso, wo wir die Galactic Hacker Party mitveranstalteten, aber damals war das Internet einfach eines unter vielen Netze.

Nettime ist dann Anfang 1995 entstanden als Pit und ich rege in Kontakt standen und ich oft nach Berlin kam. Die meisten kannten mich von der Agentur “Bilwet” und als Redakteur von “Mediamatic” (bis Ende 1994), wo ich viel über deutsche Medientheorie schrieb. Die Zeitschrift erschien damals auf Niederländisch und Englisch. Gleichzeitig hatten wir auch das erste Next Five Minutes Festival in Amsterdam veranstaltet (Januar 1993) wo sich Kunst, Aktivismus und neue Medien trafen. Aus dieser Konstellation kam dann 1994 die Waag Society hervor, die bis heute nettime.org hostet. Die Geschichte von nettime zwischen 1995 und 2001 habe ich in Dark Fiber beschrieben, weshalb ich das alles jetzt nicht wiederholen muss. Zwar wurde nettime nicht in Berlin gegründet, aber die meisten Texte, die Pit und ich damals zusammen geschrieben haben und die später unter den Titel Netzkritik 1.0 bei INC erschienen, sind in Berlin entstanden. Klar gab es viele Leute aus Berlin, die sich von Anfang an engagierten, aber es würde zu weit gehen, nettime ein Berliner Projekt zu nennen. Gleiches galt nämlich auch für Amsterdam, New York, Wien oder auch London. Nettime war also von Anfang an ein Netzwerk.

Q: Was für eine Entwicklung nahm nettime, was ja bis dato existiert, dann aus deiner Perspektive Ende der 90er Jahre?

A: Seit 2000 sind Pit Schultz und ich nicht mehr aktiv, aber wir sind nach wie vor befreundet und sehen uns einmal im Jahr in Berlin. Wir posten beide hin und wieder mal etwas auf nettime, mischen uns jedoch nicht mehr in die Admin Politik der internationalen Liste ein. Nach fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit haben Andere die englische Liste übernommen. Damals gab es auch noch die deutsche (unter dem Namen Rohrpost), die niederländische, rumänische und lateinamerikanische Liste, wobei Rohrpost und Nettime-NL noch heute existieren. Seit Ende der Neunziger Jahre gibt es jedoch keine zusätzlichen Aktivitäten mehr, die direkt mit nettime in Verbindung stehen, ebensowenig wie Treffen oder Publikationen.

Q: Wer bildete die frühe Netzavantgarde und in welchen „virtuellen Gemeinschaften“ agierte diese vornehmlich in den 90er Jahren? Welches Bild kannst du von der Berliner Netzkunstszene der 90er Jahre zeichnen?

A: Lest Ulrich Gutmaier’s hervorragendes Buch Die Ersten Tagen von Berlin über die frühe Clubszene und schreibt es ein wenig um… Oder aber beauftragt Ulrich die Netzszene in einem seperaten Buch zu beschreiben! Wir sollten zunächst mit der Frage beginnen, was es damals noch nicht gab…Es gab weder CCC noch die Re:publica ebenso wenig wie Netzpoltik, da eben noch keine Bloggerszene existierte. C-base hingegen genauso wie Botschaft e.V. (wo Pit aktiv war), Handshake, viele Mailboxen, die bei den Leuten zu Hause untergebracht waren, gab es bereits. Eine der Mailboxen war The Thing und später dann die Berliner Netzinitiative Internationale Stadt, eine Mischung aus ISP und Content Providern mit Communities. Dann gab es noch das Tacheles und andere besetze Häuser. Die Transmediale gab es in dieser Form noch nicht, weil die zu der Zeit mit Videokunst beschäfigt waren, was sich dann ab 1997 langsam änderte. Mitte der Neunziger wurde Kittler an die Humboldt Universität berufen, was eine große Bedeutung hatte, da West-Berlin in den Achtzigern wirklich keine Medientheoriemetropole darstellte.

Q: In welchen Räumen bewegten sich die Akteure dieser frühen „Architektur des Netzes“? Welche Rolle spielte damals die Verknüpfung zwischen geographischem und virtuellen Raum?

A: Berlin war bekannt für gute Partys und sonstige Treffen, aber eben schwach im Aufbauen von neuen Institutionen. Das ist bis heute so geblieben… Viel Kultur, wenig Ressourcen. „Räume“ ist das richtige Stichwort… Das sind ja eben keine Institutionen. Trotz hiesigem Start-up-Mythos ist Berlin kein Internetknoten. Diese Investitionen wurden in den achtziger Jahren einfach nicht gemacht und auch nach dem Mauerfall bildete die Telekommunikationsinfrastruktur nicht die Priorität. Jetzt ist sie nicht schlecht  aber auch nicht besonders schnell oder groß. Der größte Internetknoten ist in Frankfurt am Main (https://www.de-cix.net/about/quick-facts/). In Berlin gibt es ECIX und BCIX und in Deutschland sind Hamburg und München ebenfalls wichtig. Aber vielleicht ist das nicht das, was ihr mit der ‘Architektur des Netzes’ meint…obwohl wir diesen Aspekt nicht übersehen dürfen. Das Problem damals wie heute ist, dass diese beiden Aspekte, nämlich Technik und Kultur, nicht zusammengedacht wurden und werden. Hier in Amsterdam ist der Einfluss von „Science Park“ und „AMS-IX“ kaum zu unterschätzen und viele kennen sowohl deren Geschichte als auch deren strategische Bedeutung. Bisher hat aber niemanden diese Verbindung im Detail beschrieben. Zum Teil kommt das sicherlich auch daher, dass die Datenzentren außerhalb des Gesichtsfeldes liegen und Teil der ‘black box’ Gesellschaft (Frank Pasquale) geworden sind. So wie Elektrizität wird auch das Netz als Infrastruktur zunehmend unsichtbar. Google ist die Firma, die diese Entwicklung am besten versteht. Wenn wir an Berlin denken, geht es aber auch immer wieder um das Gegenteil, nämlich um das Sichtbarmachen der Macht, ganz im Sinne von ‘making things visible’ (Bruno Latour).

Q: Du hast den Begriff „digitaler Nihilismus“ geprägt. Beziehst Du Dich damit auf das Verschwinden des utopischen Nährbodens in dem Internet, welcher rückblickend die Anfänge des Internets so entscheidend prägte? Welche Utopien bildeten den Antrieb der zu Beginn des Internets initiierten Projekte beziehungsweise der Generation, die, wie Du so schön sagst, die „frühe Architektur des Internets“ entwarf?

A: Als ich 2005-2006 Fellow beim Wissenschaftskolleg war und zum dritten Mal in Berlin wohnte, habe ich in der Tat über den nihilistischen Impuls geschrieben (Teil von dem Zero Comments Buch). Die nihilistische Wende hat mit dem Wachstum des Netzes zu tun. Als die utopischen Elemente verschwunden waren, ging es nur noch um Macht, Geld, Gewinn und Kontrolle. Heutzutage nennen wir das Plattformkapitalismus. Heute würde man damit vielleicht Trolle und Shitstorms in Verbindung bringen. Die globale Elite und das Bildungsbürgertum kümmern sich nicht um das Internet. Es interessiert sie nicht und sie wachen immer erst auf, wenn es deren Interessen in Frage stellt. Erst dann fangen Lehrer und Pfarrer auf einmal an sich über das Internet zu beklagen: Es bringe Rechtspopulismus, Fremdenhass, den Sittenzerfall auf Grund von Pornos, führe dazu, dass Kinder sich nicht mehr konzentrieren können und keine Bücher mehr lesen würden wegen all der Computerspiele.

Was das Internet am Anfang prägte, war die Offenheit der Netze in Kombination mit dem Netz als öffentliche Infrastruktur. Leider gibt es das nicht mehr, was ich sehr bedaure. Ich stelle mir immer vor wie anders das Netz ausgesehen hätte, wenn es zwanzig Jahre vorher, sprich in der Zeit des Kalten Kriegs als Teil des Wohlfahrtstaates, ausgebaut worden wäre. Natürlich ist das Internet ein Kind des Kalten Krieges, aber leider haben es viel zu wenig Leute damals, in den 70er und 80er Jahren, benutzt. Ich denke immer, dass es dann viel mehr Widerstand gegen die Privatisierung des Netzes gegeben hätte. Die Google Suchmaschine wäre dann einfach ein öffentlicher Service, abseits von Bibliotheken, Universitäten und Gemeinden. „Creative Commons“ wären der Standart und wir hätten keine Debatten um Netzneutralität. Klar würde es nach wie vor Firmen geben…aber darum geht’s nicht.

Q: In einem Interview mit der FAZ vom 02.10.2010 hast Du gesagt, Du seist auf der Seite derer, die das Netz sozialpolitisch mitgestalten würden. Wie artikulierte sich Deine Mitgestaltung in den 90er Jahren und wie sieht sie nun um die 20 Jahre später aus?

Ist das Internet teil eines Baukastens für soziale Organisationen oder ist es ein Supermarkt? Wir haben diesen Kampf verloren und somit ist die Frage eindeutig zu beantworten. Es gibt noch letzte Grabenkämpfe und niemanden weiß genau wann diese letztendlich abflauten und komplett verschwinden. Wenn es nur noch um Anwendungen im Netz geht und das Gesamte nicht mehr in Frage gestellt werden kann, gebe ich dem Ganzen noch 5-10 Jahre bis dieses lange Zeitalter der Internetauseinandersetzung vorbei sein wird und es zu so etwas wie Straßen, Wasser, Elektrizität, der Post usw. wird. Natürlich sind die ehemaligen öffentlichen Versorgungsbetriebe kontrovers geblieben. Der Staat wird sich darum nicht mehr kümmern, denn angeblich müssen wir die Verantwortung dafür selbst übernehmen. Darum glauben viele an das Internet als ‘commons’. Ich glaube auch, dass manche Gemeinschaften ihre eigenen Dateninfrastrukturen usw. betreiben können. Aber genau bei der großen Infrastruktur, den Knoten und Datenzentren, den Kabelverbindungen und Ankopplungen von Schulen, ist das problematisch und kann nicht einfach dem Einzelnen überlassen werden.

Das Netz sozialpolitisch gestalten hieße also die Frage nach der Infrastruktur zu stellen. Die zweitwichtigste und immernoch ungelöste Frage ist, ob es Alternativen für die ‘sozialen Medien’ à la Silicon Valley gibt. Wir wissen bereits, dass es da nicht um die Herausforderung geht, Facebook nachzubauen. Die Struktur selbst müssen wir neu denken: Was ist die Alternative zu einer Begrenzung des ‘Sozialen’ auf die Freundeslogik? Welche Geräte sind am besten, wenn wir etwas organisieren wollen? Es gibt zahlreiche Tools, neue wie alte, wobei viele davon nicht im Bereich des Open Source angeboten werden. All diese Herausforderungen gelten immer noch und haben sich grundsätzlich nicht verändert – trotz monopolistischer Plattformen.

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