„Es geht ums Ganze, den Weltgeist!“ — Interview mit dem Netzkritiker Geert Lovink über die Zukunft des Radioaktivismus
Von Martina Backes (iz3w)
Radikal unabhängig zu sein vom Staat und vom Markt – das war die Kernidee der Freien Radios. Nur so könne Pressefreiheit realisiert und die Medien der Kontrolle der Herrschenden entzogen werden. Wir sprachen mit Geert Lovink über Herausforderungen, vor denen das Freie Radiomachen als medienaktivistische Form heute steht.
Martina Backes: Wie unabhängig sind Freie Radios heute, wo stoßen sie an Grenzen und welche Kämpfe haben sie zu führen?
Geert Lovink: Der Kampf um freie Frequenzen auf UKW (FM) wird nach wie vor geführt. Weil er sehr schwierig und oft erfolglos ist, wurde er so manches Mal von Freien Radios eingestellt. Das Podcasten im Netz drängte sich vielen als schnelle Alternative auf. Es stellt jedoch eher ein Paralleluniversum dar und hat das Radio als Medium im Grunde nicht verändert. Ideal – im Sinne freier Kommunikation – wäre die sofortige bedingungslose Freigabe aller FM-Frequenzen. Diese Utopie hat sich in einigen wenigen Fällen sogar kurzzeitig realisiert, konnte sich aber nirgendwo dauerhaft durchsetzten. Ich glaube, dass sich viel bewegen kann, wenn FM-Kanäle nicht mehr so restriktiv reguliert werden. Das Problem ist, dass FM vielleicht erst freigegeben wird, wenn die Technologie selbst obsolet geworden ist und niemand mehr ein klassisches Radio besitzt. Obwohl das Digital Audio Broadcasting (DAB) – ein Verfahren zur Übertragung von digitalen Rundfunksignalen – und das neuere Codierungsverfahren DAB+ schon uralt sind, weiß niemand so richtig, ob Freie Radios davon profitieren werden. Mein Fazit: Wir sollten die Anarchie nicht fürchten und die Medienfreiheit gemeinsam gestalten, nicht nur als Recht, sondern als Praxis.
Im Sinne von Erich Fromm glaube ich an die Überwindung der ‚Furcht vor der Medienfreiheit’. Der Kampf ums Internet ist der alte, nämlich ein Kampf gegen Staat und Monopole (diesmal Facebook und Google). Ich habe als Netzkritiker nie behauptet, das Netz wäre die Lösung. Es hat sich gezeigt, dass sich das Radio in der sich wandelnden Medienlandschaft gut behaupten kann, besser als Zeitungen und Zeitschriften. Was ich an den Freien Radios mag, sind die Komponenten Lokalität und das Gemeinschaftliche. Genau das sollten wir auch im Internet realisieren. Bevor wir also über Kämpfe reden, sollten wir erst einmal unsere kollektive Einbildungskraft stärken und anwenden und uns fragen, wie wir ‘freie Assoziationen’ von lokalen Podcast-Sendungen zustande bringen. Auf den Internetkontext angewendet heißt das, föderale Netze zu gestalten: Nicht nur dezentral und lokal agieren, sondern Autonomie eine Ebene höher denken. Erst dort wird es richtig spannend.
MB: Das hieße, die dezentrale Organisierung mit der großen, universellen Perspektive zu verbinden? Welche Ansatzpunkte gibt es hier?
GL: Wir müssen besser verstehen und besser darin werden, wie wir so genannte föderale Netze auf- und ausbauen können. Die Antwort auf zentralisierte Monopole ist eben nicht die Dezentralität. Was wir brauchen, sind neue Modelle für eine Zusammenarbeit, ohne die Autonomie aufzugeben. Auf der Intrastrukturebene ist das durchaus möglich.
MB: Im internationalen Kontext wird häufig der Begriff Community Radio (oder Radio Associative) verwendet. Was kann Community Radio heißen? Wie schätzt du das Risiko ein, dass ein Community Radio als Medium für nicht-emanzipatorische Diskurse dient, etwa für separatistische oder ethnisierende Meinungsbildung? Nicht-staatlich und nicht-marktkonform zu sein, ist ja noch kein ausreichender Garant für emanzipatorische Inhalte.
GL: Genau. Radioformate können für alle Inhalte benutzt werden, das war immer schon so. Zu glauben, es gäbe eine innere Architektur der Technik, die antifaschistisch ist, wäre naiv. Vielleicht ist das eine Aufgabe für die Science-Fiction. Wir wissen jedenfalls, dass Dezentralität allein es nicht bringt. Ob das Vereinnahmungsrisiko durch rechte Strömungen so groß ist, bezweifle ich allerdings. Schließlich ist sehr einfach, Do-it-yourself-Kanäle aufzumachen. Aber letzten Endes geht es um soziale Wehrbarkeit, also darum, die neoliberale Isolation im Alltag zu überwinden, einzugreifen, Nein zu sagen, notfalls anzugreifen und nicht in die Defensive zu geraten.
Im Zeitalter von Podcasts, die von individuellen RadiomacherInnen produziert werden, ist Community Radio, ganz dialektisch, wieder subversiv. Das Attraktive am Radio ist die gemeinsame Herstellung von Programmen, weg vom individuellen Arbeiten im isolierten Home Office. Die sozialen Schattenseiten durch die Gruppendynamiken in einem Radio sind vielleicht nicht zu verhindern. Dafür bekommen wir aber auch etwas zurück: einen alternativen Vertrieb. Die Distribution war immer schon das große Geheimnis um die Frage, wie Freiheit der Medien zu realisieren ist. Es ist eine Binsenwahrheit zu behaupten, der Vertrieb sei jetzt mit dem Internet gelöst. Marketing ist immer wichtiger geworden und hat sich in Richtung Sozialer Medien verschoben: Alles dreht sich um Likes und Retweets. Das ist bei linken MedienaktivistInnen nicht anders. Diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen, macht also Sinn, auch um technische Expertise zu teilen.
MB: Der Begriff „Gegenöffentlichkeit“ wurde von den (linken) Freien RadiomacherInnen stark geprägt und positiv besetzt: Gemeint ist die Aneignung von Kommunikation als Aufbegehren gegen die Deutungsmacht der von Staat und Markt beeinflussten Medien, das Auflösen der Sender-Empfänger- Dichotomie, das Generieren von verschwiegenen Informationen, die Schaffung von Räumen für kritische Meinungsbildung anstelle widerspruchsfreier Erklärungen. Heute ist zu fragen, was angesichts des Geredes über die „Lügenpresse“ das Konzept Gegenöffentlichkeit überhaupt noch taugt. Was ist an dem Begriff schwierig?
GL: Es geht nicht um das „Gegen“-Element. Dieser Habermas’sche Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit passt schon seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Die vorgegebene Zentralität der Debatte ist längst obsolet. Was in der FAZ behauptet wird, interessiert nicht mal mehr die Elite. Die Herstellung und Reproduktion der Hegemonie, also der ‘herrschenden Meinungen’, passiert nicht mehr über das Fernsehen. Bevor wir die ZDF-Zentrale besetzen, geht es doch darum, was wir überhaupt zu sagen haben: Es geht um das Programm, um die kollektiven Wünsche und Begierden. Ich bin sehr dafür, ‘Meme Design Labs’ zu errichten, um herauszufinden, was funktioniert – also ansteckende Ideen, die sich ‘viral’ im Internet verbreiten. Die politischen Kampagnen heute müssen mit der NGO-Logik radikal brechen, weg vom pädagogischen Ton der politisch-korrekten Zielsetzungen. Weg von den Identitäten und neue Gemeinsamkeiten herstellen! Die neue Sprache wird singulär sein, bewusst fremd. Daran müssen wir uns gewöhnen.
MB: Freie Radios begreifen sich gerne als Stimme sozialer Bewegungen. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich ein solches Radio in der eigenen (HörerInnen-)Community mit eigenen Gewissheiten gemütlich einrichtet?
GL: Die sozialen Bewegungen sind ein Konstrukt aus den 1980er Jahren, die gibt es nicht mehr, abgesehen von ein paar verkrusteten Überresten. Proteste sind heute kurzlebig, groß und vernetzt, und sie verschwinden wieder, bevor wir sie erkundet haben. Sie haben keine Zeit, zu richtigen Bewegungen anzuwachsen. Es geht also darum, diese Bewegungslogik neu zu erfinden.
MB: Ein paar Community Radios mehr – ob in Italien oder Indonesien – garantieren ohnehin noch nicht, die Deutungsmacht der privaten Medienkonzerne oder der staatlich kontrollierten Hörfunkanstalten zu brechen. Die Informationen der kleinen Sender können leicht folgenlos verhallen… Wo also bleibt die Wirkung?
GL: Das sehe ich nicht so. Die Gegenmacht funktioniert so nicht. Was wäre die Alternative? Ein radikal-linker Satellitenkanal à la RTL? Vielleicht so etwas wie die US-amerikanische Radiosendung „Democracy Now!“ auf Deutsch? Warum wird das nicht gemacht? Gibt es dafür in Deutschland kein Geld? Oder kein Publikum? Das bezweifle ich. Was ansteht, ist die Entwicklung von Alternativen für Soziale Medien wie Snapchat, Instagram, WhatsApp, Facebook und Twitter. Warum sieht der Chaos Computer Club das nicht als Priorität? Die deutschen HackerInnen setzen ausschließlich auf die Verteidigung der Privatsphäre, statt auf den infrastrukturellen Angriff.
Nehmt euch ein Beispiel an den KurdInnen, die viele Fernseh- und Satellitenkanäle haben. Willy Münzenberg, wo bleibst du? Statt wie dieser in den 1930er Jahren aktive Kommunist und Verleger eine große Vision im Infrastrukturbereich zu entwerfen, halten wir an kleinen, lokalen Zusammenhängen fest. Diese sind aber nicht in der Lage, konzeptuell zu arbeiten und groß zu denken. Wie wir wissen, geht es im digitalen Bereich nicht um das große Geld. Die Mittel sind vorhanden, die Verbreitungskanäle kosten heutzutage kaum etwas. Es geht um die Organisationskraft und den technologischen Willen, die Medienfrage neu zu stellen, also die Definitionsmacht darüber in die Hand zu nehmen, wie Medien funktionieren und gelebt werden. Es geht ums Ganze, den Weltgeist. Denke groß!
MB: Die Hoffnung aus der Gründungszeit der Freien Radios, einen Raum für radikal unabhängigen Journalismus zu schaffen und Meinungsfreiheit zu leben, wiederholte sich mit der Digitalisierung und der Nutzung digitaler Kanäle. Gerade die interaktiven und partizipativen Möglichkeiten wurden dabei gefeiert. Unformatiertes, Unerhörtes, Widerspenstiges – erst über den Äther, nun im World Wide Web. Hat das den unabhängigen Journalismus und die Meinungsfreiheit wirklich befördert?
GL: Erstens ist Radio ein Medium; und Journalismus stellt zum Glück nur einen Bruchteil des Angebots dar. Die Medien initiieren aber nicht, ob und welche politischen Initiativen es gibt. Das spielt sich im Sozialen ab und ist eine Frage der Selbstorganisation. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir die Fragmentierung der Medien und der Gesellschaft immer auch selbst vorangetrieben haben. Wir wollten diese minoritäre Position, und wir haben sie bekommen. Zum Teil sichert diese Strategie die Meinungsfreiheit. Die lokalen Kanäle gibt es nun, und die gilt es auch zu verteidigen. Aber bringen sie auch Neues hervor?
MB: An welche Neuerungen denkst du?
GL: Es geht um die Frage, wie wir uns heutzutage lokal organisieren. Derzeit wissen sogar viele Linke nicht mehr, was es außer Whatsapp-Gruppen und Facebook noch für Möglichkeiten gibt. Der Verlust an autonomer Infrastruktur ist verheerend und wird, ehrlich gesagt, nicht einmal wahrgenommen. Es geht darum, alles Mögliche auszuprobieren und zu teilen, was funktioniert und was nicht. Das gilt ebenso für die Programmformate. Wir können jetzt umsonst mit der ganzen Welt telefonieren und große Debatten veranstalten, aber wir machen das einfach nicht. Erstaunlich.
MB: Angesichts der Digitalisierung der Medien finden immer weniger persönliche Auseinandersetzungen statt. Das Risiko wächst, ausschließlich genehme Informationen aus dem Netz zu fischen und diese Fänge über Soziale Medien in Freundeskreisen zu teilen. Statt Auseinandersetzungen kursieren Gewissheiten. Sind alternative Medien davor gefeit? Was macht in dieser Digitalisierung eigentlich kritische Distanz aus? Welche Risiken birgt die Dynamik sozialer Netzwerke für Freie Radios?
GL: Oft ist zu hören, dass mit Facebook Nachrichten geradezu erstickt werden, seltener zu hören ist das Gegenteil: Wie Nachrichten über Facebook verbreitet werden. 1995 habe ich mit Pit Schultz aus Berlin das Projekt nettime.org initiiert, das nach wie vor existiert. Es ist ein Ergebnis unseres seit gut 25 Jahren geführten Kampfes mit der Frage, was Kritik im Bereich digitaler Netze bedeutet. Das Interesse an Internetdebatten wie bei nettime ist nicht sehr groß. Bestenfalls kommentiert man einen Satz mit Schnellschüssen und Pauschalurteilen.
Alternativmedien haben sich zum Teil professionalisiert und in Spezialgebiete zurückgezogen. Das Thema Internet bleibt marginal, selbst an der Universität. Hier kann man zwar Film studieren, aber kein Internet. Theater und Literaturkritik sind etabliert und werden gefeiert, das Netz bleibt im universitären Betrieb und Kulturbereich hartnäckig unsichtbar. Es gehört dem Markt und wird von einer ganzen Armee von Geeks gewartet, so wird das Internet auch in den kommenden 30 Jahren nicht Teil der Kultur werden. Unterdessen gehen die Entwicklungen einfach weiter: Internet of Things (IdD oder Allesnetz), Virtual Reality, Robots. Ich muss dazu noch bemerken, dass Offline voll im Trend ist. Das verschwindet nicht, ganz im Gegenteil, es ist eine Hipster-Therapie. Wir können die Lähmung nur durchbrechen, wenn wir akzeptieren, dass unser Alltag und die Kultur selbst zutiefst technologisch geworden sind. Wir müssen uns ausbilden und diese Sphäre politisieren – und nicht länger wegschauen.
MB: Das größte Risiko ist also das Wegschauen? Es gälte, durch die Umwälzungen hindurch die Produktionssphäre radikal zu verändern? Es wird andererseits immer wieder einen Anker brauchen, um die Stimmen zu sortieren; eine distanzierte Position; redaktionelle und konzeptuelle Eingriffe.
GL: Die aufgeklärte bürgerliche Elite, vor allem in Deutschland, hat lange geglaubt, das Internet sei nur ein Hype, eine Modeerscheinung, die wieder verschwinde. Auf der BenutzerInnenebene stimmt das zum Teil auch: MySpace, StudiVZ und Blogger sind tatsächlich verschwunden. Die Idee des konzeptionellen und redaktionellen Eingriffs ist eine wichtige Annahme, setzt aber voraus, dass wir voll in die Materie einsteigen und die Entwicklungen, vor allem die neuen, ernst nehmen. Erst dann können wir gemeinsam eingreifen und gestalten. Erst dann sehen wir auch, dass alle Kanäle, egal wie frei und offen, immer redaktionell bearbeitet werden. Das Editieren bleibt also, das ist in jedem Medium so. Diese Arbeit wird allerdings immer mehr von Software gemacht (etwa von Bots, die sich wiederholende Aufgaben ohne menschliche Interaktion abarbeiten). Unsere Aufgabe wäre, neue Geschichten und visuelle sowie auditive Motive herzustellen. Sonst werden das Facebook und Google für uns machen.
MB: Derzeit sprechen etablierte Medien vielfach darüber, der postfaktischen Gesellschaft vehement mit Objektivität zu begegnen. Das Ideal der „schlagenden Kraft der faktenbasierten Argumente“ feiert ein Comeback in den öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalten. Worin liegt dann derzeit das Besondere der Freien Radios? Worin sollte es liegen?
GL: Das Radio kann zurückbeißen und sich über diese „Tatsachen“ lustig machen. Es hilft wenig, sich ernsthaft mit Post-Fakten auseinanderzusetzen, als ob dies wahrhaftige Argumente seien, denen in einem rationalen Dialog mit Wahrheit beizukommen ist. Propaganda kann man eigentlich nur mit Gegenpropaganda anfechten, und Humor ist erstaunlich effektiv. Was nicht hilft, ist die politisch-korrekte Haltung. Das ist nicht nur langweilig, sondern auch kontraproduktiv und manchmal auch schlichtweg blind, zum Beispiel wenn es um reaktionäre Elemente im gelebten Islam geht. Es gibt Fakten, die unumgänglich sind. Und der ‚Multi-Kulti’-Konsens ist inzwischen obsolet und hat wenig gebracht. Zensur hilft hier nicht weiter, nur eine offene Auseinandersetzung – und Spaß haben! Wir müssen die Angstkultur durchbrechen. Darin können Freie Radios eine wichtige Rolle spielen – aber bitte, hört auf mit dem Belehren!
Was auf uns zukommt, ist eine durchdigitalisierte Gesellschaft, die komplett bildzentriert ist, wo es keine Zeit mehr gibt für langwierige verbale Auseinandersetzungen. Die Konflikte und Ereignisse beschleunigen sich und finden in Echtzeit statt. Das Radio als Medium ist darauf bestens vorbereitet (und Teil dieser Entwicklung). Sind wir als Radiomacherinnen, ob im Netz oder über den Äther, darauf vorbereitet, direkt zu antworten; und die Entwicklungen gar zu steuern?