Jenseits programmierter Traurigkeit, Erklärung zu Hanau

Von Geert Lovink

Vorgetragen bei der Eröffnung der Digikonferenz der Bundeszentrale für politische Bildung im Mousonturm in Frankfurt am Main, 5. März 2020.

Am allerwichtigsten ist das Motto: „Ihnen zuhören, Ihre Stimmen zählen!“. Am wichtigsten ist das, was die Angehörigen der Opfer und ihr Umfeld fordern, wollen und nicht wollen. Wir sollten zuhören, vor allem politisch Verantwortliche. Es geht darum die Gesellschaft der Vielen zu verteidigen und Migrant*innen zu schützen statt sie zu Problemen zu erklären.

Meine Forderung lautet: Verfassungsschutz auflösen und neu gründen. Und am besten mit einer Verfassung, die den Antifaschismus als Verfassungsziel beinhaltet, falls möglich eine Verfassung für Europa. Es nützt gar nichts, wenn die AfD überwacht werden sollte wenn der Verfassungsschutz selbst nicht reformiert wird. Die alte kybernetische Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure ist hier zentral. Konkret heisst das auch: Öffnung der NSU-Akten. Dazu sollten wir unabhängigen Recherchen wie diesen fordern.

Es ist angesagt, wir sollten historischen Kompromissen ermöglichen und verteidigen. Sachsen-Anhalt hat jetzt eine antifaschistische Verfassung. Ich möchte hier den Aktionsplan gegen Rassismus von Bündnis90-Die Grünen vom 1. März erwähnen: Für ein Land, in dem alle vor Rechtsextremismus sicher sind. Rassismus und Diskriminierung stoppen und Vielfalt und Teilhabe fördern. Wir müssen aber über diesen Konsens hinausgehen. Wichtig hier ist auch der Vorschlag (in Zeit Online): Wir brauchen einen Masterplan gegen Rechtsextremismus, wie auch in den jüngsten Arbeiten von Claus Leggewie beschrieben wird (hier und hier).

Diejenigen, die sich öffentlich äußern, auf den Bühnen in Hanau, auf den Demonstrationen, in Fernsehinterviews, werden bedroht, insbesondere digital. Es muss besseren Zugang zu Medienanwält/innen für postmigrantische Individuen und Gruppen geben. Anzeigen müssen strafrechtliche Konsequenzen haben. Rassistische Bedrohungen müssen ernst genommen werden und nicht als Unmutsäußerung abgetan werden.

In Deutschland wird nach wie vor antifaschistische Arbeit behindert, bestraft, ausspioniert, bedroht, von Rechten, aber ebenso vom Staat. Ich plädiere hier für eine Neubewertung und Wiedergeburt vom Antifaschismus (besser bekannt als antifa). In der Jugendkultur ist Antifaschismus schon wieder komplex, sexy und positiv besetzt. Insbesondere die Deutsche Massenmedien sind borniert in dieser Hinsicht. Es muss einen gesamtgesellschaftlichen Konsens geben, dass Antifa notwendig und zu fördern ist und Teil der demokratischen Grundverfassung. Wir wissen, Gesetze allein reichen nicht aus, es geht um das Aufbauen der Wehrbarkeit der demokratischen Kultur. Die Verfassung muss von unten her gedacht und gelebt werden.

Migration ist kein Verbrechen. Wir brauchen ein Ende der migrationsfeindlichen Politik und Rhetorik gegen Geflüchtete und Migranten, hier und überall in Europa. Ganz konkret fordern wir ein Ende von racial profiling und der Kriminalisierung von migrantischen Jugendlichen und Erwachsenen und den Orten, an denen sie ihre Freizeit verbringen.

Wir fordern die Aufklärung nicht-aufgeklärten Todesfälle mit Rassismusverdacht, auch bei Polizeibehörden. Dafür braucht es unabhängige Untersuchungsausschüsse. Statt von verwirrten Einzeltätern zu reden, endlich bewaffnete Neonazinetzwerke benennen. Keine Pathologisierung der Täter, keine Waffenscheine für Rassisten. Die Entwaffnung  Neonazis sowie die Vollstreckung aller Haftbefehle gegen untergetauchte rechte Straftäter.

Nehmt politische Bildung ernst und nutzt dafür auch zeitgenössische Mittel wie sozialen Medien. Wir wissen schon seit vielen Jahrzehnten wie man die Jugend über Popkultur, Internet und Apps erreicht, über Fernsehen und Netflixserien, YouTube Channels, Mode, Instagram und TikTok, Sport, Musik, bis hin zu Kooperationen mit Influencern. Das galt damals auch für mich. So habe ich selbst 1975 das erste Mal von der Bundeszentrale für politische Bildung gehört, als ich in der Deutschstunde eine Aufklärungsbroschüre der Bundeszentrale zur Geschichte des Deutschen Nationalsozialismus bekam, eines der berühmten schwarzen Hefte.

Kritisches Denken heutzutage heißt konkret: Umgang mit Sozialen Medien, Endgeräten und Nutzeroberflächen fordern. Das wissen was dahinter steckt muss Teil des schulischen Lehrplans sein, also Verbreitung vom Wissen über fake news, algorithmen, trolls, bots, hate speech, hoaxes, filter bubbles und deep fakes. Wir müssen Netzkompetenz fördern und gleichzeitig an Europäischen Alternativen für den hiesigen Monopolplattformen arbeiten. Das wäre die Aufgabe der digitalen Zivilgesellschaft.

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