Von Geert Lovink
GL: Was mich an www.radiostudio.org inspiriert ist die ganze Spanne, von streaming Linux radio bis hin öffentlich-rechtliches Hörspiel. Alte und neue Formen und Formate. War es wirklich möglich in dem Studiengang Medien diese beiden Extreme zu behandeln? War die Vielfalt nicht verwirrend? Gab es nicht immer wieder Sachzwänge und Entscheidungsmomente?
RH: Im Radio ist ja jeder Schnitt eine Entscheidung… Diese inspirierende Bandbreite ist oder war ja das, was das Experimentelle Radio auszeichnete und auch der Mix aus alten Ansätzen und Neuen Formen zielt auf die Idee an einem digitalen Bauhaus genau an diesem Ort der alten Schule zu arbeiten. Das was Du als Extreme wahrnimmst, ist aber auf der einen Seite gar nicht so extrem, wenn wir als Entscheidungslinie den Aufbau einer Experimentellen Radio Station nehmen. Also das Experimentelle Radio ist kein Spartenprogramm oder die Verlängerung eines Musik-Konservatoriums oder eines Ingenieurs- oder Literatur-Studiums, sondern die Ernstsituation einer Station, und eine Station hat nun mal ein Bouquet von Sendezeiten, eine Variation im Programm und auch in der digitalen Distribution und Produktion. Eine Station ist ganz allgemein Bestandteil der heutigen digitalen Kultur, der Pop- und Alltags-Kultur. Dabei war einiges, was wir gemacht haben gerade dem Umgang mit Sachzwängen geschuldet.
Zum Beispiel: Als ich in Weimar ankam, gab es keinen Computer im Studio und mir wurde vom Hochschulrechenzentrum gesagt, dass sie keinen Streaming-Server betreiben können oder wollen, keine Mailinglisten, Blogs usw. usf. Also haben wir das eben alles selber gemacht, den ganzen digitalen Auftritt einer Radiostation. Das mag nach außen auf den ersten Blick verwirrend wirken, nach innen, in der aktiven Gruppe am Lehrstuhl ist das transparenter. Da ich früher etwas Basketball gespielt habe, nenne ich diese Methode, die des Sternschritts: Den Ball sicher halten und in verschiedene Richtungen anbieten. Das korreliert auch mit meinem Ansatz in der künstlerischen Lehre, der auf die Förderung der Persönlichkeit, individueller Neigungen und Kompetenzen der Studierenden zielt. So gab es eben Studierende die den Ball beim Open Source basierten Streaming angenommen haben, Software geschrieben haben und andere, die den Ball als Autorinnen von Hörspielen angenommen, weitergespielt und oft genug in den Korb gelegt haben.
GL: Durch Techno, Rap und Hiphop ist das Mischen von Musik, Texten und Geräuschen ein stückweit alltäglicher geworden. Die altmodische Reihenfolge von Anmoderation, Musikstück und Abmoderation und dazwischen vielleicht noch ein Wortbeitrag gibt es so nicht mehr. Oder? Hast du da eine gewisse Evolution über die Jahre hinweg gesehen?
RH: Ganz allgemein hat die so genannte Pop-Kultur das Radio im deutschsprachigen Raum verändert. Eine Veränderung, die tief in das kulturelle Selbstverständnis eingriff und noch eingreift. Die Bindekräfte dessen, was manche selbstgerecht als Hochkultur bezeichnen sind einfach weggestorben. Ich hatte z.B. einmal Besuch aus der Schweiz, weil auch dort eine vergleichbarer Lehrstuhl errichtet werden sollte, und habe unsere Programmpraxis beschrieben, dass wir an der Bauhaus-Uni an einem gehobenen popkulturellen Programmprofil arbeiten, also ein Kulturprogramm mit zeitgenössischer L-Musik wie das im Radiojargon heißt, keine Ernste Musik. Und mein Gast meinte dazu einfach, dass da die Schweizer anders seien: Die am Wort interessierten hörten keine Pop-Musik, das sei zu dudelig. So taub und blind kann dieser Kulturkampf machen. Die ganzen überholten Gegensatzpaare: Dummer Dudelfunk hier, intelligenter Einschaltfunk dort. Wir gehen im Experimentellen Radio stattdessen vom konzentrierten Nebenbeihören aus. Oder wie Herbert Kapfer von der Medienkunst des Bayerischen Rundfunk mal so schön gesagt hat: Er kann beim Hörspielhören auch Bügeln.
Aber zurück zu Deiner Frage: Selbstverständlich hat die DJ-Kultur und z.B. Techno das Radio verändert. Wir müssen nicht mehr alle vier Minuten das Musikstück wechseln, nur weil mal jemand vor fast 100 Jahren solche Plattenlängen gepresst hat, wir können Klangbetten senden, die 24 Stunden vielfältig sind, spannende Mixe bauen, Remixe usw. Heutzutage arbeiten wir auch mit Drop Ins, kleinsten, ich sage mal Störungen, die z.B. als Station-ID funktionieren. Was wir im Experimentellen Radio auch immer wieder ausprobiert haben, sind Mixe mit der Maxime “Word is a beat”, sehr frei nach “Word is a virus”. Das Wort als Beat begreifen, mit dem gescratcht, gemixt, gearbeitet wird wie mit Musik. Ich hatte das mal in den Kontext gestellt, als ich sagte, dass das Experimentelle Radio ein “tanzendes Medium” ist. Also anti-wagnerianisch, weil Wagner der Musik den Tanz austreiben wollte. Wir bringen dem Tanz, den Körper, wieder rein und machen das auch noch mit Wort. Das ist ein ganz anderes Modell als das die privaten, öffentlichen aber auch sog. deutschen freien Radios beschreiten. Hier wird mit immer mehr simpler Moderation und einfachen Talks gearbeitet. Zum einen, weil es billig ist oder nach wenig Aufwand aussieht. Zum anderen glauben die Redaktionen so den Bindeverlust der Musik auszugleichen. Musik war mal das wichtigste im Radio, hat sich aber mit der Politik der Musikindustrie selbst ins Aus katapultiert. Nun muss Radio das auffangen. Die einen versuchen es mit mehr Talks und wir mit intelligenterem Klang, raffinierteren Mixes und besserer Musik, natürlich.
GL: Es geht einerseits um die Revolutionierung des Mediums, und gleichzeitig aber um deren Auflösung. Weil Radio eher klein ist im Vergleich zu anderen Medien, ist es da nicht gefährlich die multimediale Religion zu predigen? Alles geht in Richtung ‘cross media’, nur nicht die institutionelle Macht…
RH: Es gibt viele Gründe, warum die multimedialen Hassprediger über jede Messe huschen. Zum Beispiel, weil sie sich davon erhoffen Personal-Kosten einzusparen. Oder weil der Postfordismus auch ein Posttaylorismus ist. Oder weil die institutionelle Macht sich gerade das erhofft: Das Absichern der Macht. Ich mache Mal ein Beispiel: Als ich mit meinem Radiomikrofon auf einer der großen Antifaschistischen Demonstrationen der deutschen Nachwendezeit war, gab es noch kein “Cross Media”. Das heißt, die damals noch Bundesgrenzschutz genannte deutsche Bundespolizei, durchwegs Westpersonal, organisierte die Demonstration entsprechend der politisch gewünschten Fernsehbilder: Chaoten im Kampf! Dazu brauchten sie 30 Sekunden Wasserwerfer und ein paar Steine. Dazu wiederum entsprechende Provokation. Das übliche westdeutsche “Demobalett”. Die ebenso zur Sicherheit der Demonstration eingesetzte sächsische Polizei verstand diese Einsatzstrategie überhaupt nicht, denn sie eskalierte und entwickelte Gewalttaten. Es kam zum offenen, lautstarken Streit der Einsatzleiter vor Ort auf der Strasse. Dieser Streit war für mich das akustische Moment, das Radio-Ereignis. Ich hielt einfach mein Mikro zwischen die wütenden Offiziere. Die Kollegen und Kolleginnen vom Fernsehen fanden allerdings Talking Heads zu Recht langweilig und holten sich lieber fetzige Bilder von fahrenden spritzenden Wasserwerfern und den paar vermummten Steinewerfern. Etwas was für mein Mikro komplett langweilig ist. Der Schall von Steinen bildet sich nicht richtig ab und ein Wasserwerfer klingt nur nach Lastwagen. Beide Reportagen wurden gesendet, beide entsprechen der Wahrheit, nur das Bild folgt der Inszenierung, weil die Inszenierung für das Bild gemacht wurde.
Das kleine unwichtige Radio widerspricht der Inszenierung, weil es einfach von der Polizeiregie vergessen wurde. Die Medien bilden ja nicht Wirklichkeit ab, sondern die Wirklichkeit wird so gemacht, dass sie abbildbar durch Medien wird. Deshalb meine ich, das ‘cross media’ die Kosten der Inszenierung der Macht verringert. Gerade deshalb ist es wichtig, das kleine Radio als solches zu halten und als aktivistisches Konzept weiter zu entwickeln; und zusätzlich auch die Multimediatisierung vom Radio her zu denken. Im Moment gehen die Hass-Prediger und Hass-Predigerinnen von Multimedia eher vom Bild Hype und vom Screen Interface aus. Genau da gieren sie nach der Kostenersparnis. Ich meine viel Geschrei und Geld für Nix: Die bildfixierte Multi-Media-Kirche wird leer bleiben, oder das anvisierte Publikum am Alleebaum landen. Ich sehe da für Radio als Kern einer multimedialen Aufbereitung die spannendere Herausforderung.
GL: Reden wir mal über Radiotheorie. Gibt es so was? Was sind die Quellen die du und deine Studenten benutzt haben?
RH: Ich bin ein großer Verfechter einer diskreten, eigenen, Radiotheorie. Einfach deshalb, weil das Verhandeln von Radio über Musik und Musikwissenschaft nicht viel bringt, bzw. uns auf eine falsche, unproduktive und nicht innovative Spur führt. Radio hat z.B. immer ein Bild, ist immer mehr als ein Lautsprecher usw. Ich finde Radiotheorie auch deshalb interessant, weil Radio für mich ein Pilotmedium ist, immer schon da war und praktische wie theoretische Fragestellungen aufwarf und evt. auch gelöst hat, bevor bewegte Bilder folgten. Zuletzt beim streaming. Wenn wir uns bestimmte Marketingflops wie Erfolge der Digitalisierung anschauen, dann basieren sie m.E. auch auf konzeptuellen Defizite oder Fehleinschätzungen, die durch eine mangelnde, von Musik- und Bildwissenschaftsfixtierten unabhängige Theoriebildung entstanden sind. Ich selbst bin kein Wissenschaftler, sondern ausgewiesener Praktiker. Als Künstler an der Bauhaus-Universität habe ich gelernt, dass Wissenschaften und Künste ihre jeweils eigene Praxis haben – und ihre jeweils eigene Theorie. Dass also das von den Kunsthochschulen gewohnte Aufsplitten in künstlerische Praxis und wissenschaftliche Theorie so nicht stimmt, zumindest nicht an hegemonial von Wissenschaftskultur geprägten Hochschulen. Diese Erkenntnis zweier eigenständiger, z.T. inkompatibler Erkenntnis-Felder, beeinflusst meine Vorstellung einer diskreten Radiotheorie.
Als Theoriequellen für das Experimentelle Radio dienten zum Beispiel Strauss/Mandl, “Radiotexte”, herausgegeben von Semiotext(e) in New York, die einen guten Überblick bilden, von den Anfängen der Radiotheorie bis zu Beginn der 90er Jahre, also sozusagen alles mit Ausnahme von Internetradio, und neueren, digitalen, Funktechnologien oder Douglas Kahns Buch Noise, oder Gregory Whiteheads auch bei MIT erschienene Arbeit “Wireless Imagination”. Mit Blick auf die deutschsprachige Radiopraxis dann LaRoche/Buchholz Handbuch zum Radiojournalismus, ein Standardwerk, das ich auch deshalb schätze, weil Walter von LaRoche und ich aus dem gleichen medienpraktischen Umfeld kommen, einem demokratisch Selbstorganisierten wie beruflich professionellen. Auch “Lange Leitung, Kurze Welle” herausgegeben von der Shedhalle in Zuerich ist interessant, z.B. zum Verständnis der Freien Radioszene in Deutschland. Wichtiger sind mir aber zum Beispiel Tetsuo Kogawas Arbeiten zu Micro FM in Japan, Steven Dunnifers Initiativen in Californien oder nicht zuletzt ein Verständnis von taktischen Medien, wie es Du mit David Garcia im ABC of Tactical Media für Next 5 Minutes formuliert hast.
Als ich meinen Ruf in Weimar angenommen hatte, wurde ich von einer Fachzeitschrift des Bürgerfunks in Deutschland eingeladen, einen konzeptuellen Artikel zu schreiben und ich habe darin versucht, das Experimentelle Radio als Taktisches Medium zu beschreiben; mit dem Ergebnis, dass der Redakteur das Wort “taktisch” immer rausgekürzt oder wirr in ein vermeintlich deutsches Wort übersetzt hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass es zwischen guten Alternativen Medien und bösen kommerziellen oder öffentlichen noch etwas anderes geben könnte. Ich meine, dass mich persönlich ganz allgemein Agentur Bilwets “Bewegungslehre” beeinflusst hat, und dass ich eben mit den simplen deutschen Ansätzen aus den 70ern und 80ern zu Radio noch nie viel anfangen konnte. Was Weimar betrifft ist es mir allerdings in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gelungen, Konzepte für eine stärkere Theoriebildung im Radio umzusetzen, zum Beispiel durch ein gedachtes und konzeptuell ausgestaltetes “Bauhaus Studio Program”. Also nach dem Entwurf einer stringent künstlerischen Ausrichtung eines Bachelor of Fine Arts und Master of Fine Arts Studium waren dann die konservativen Widerstände doch zu groß.
GL: Gab es Schulen oder Akademien die Dir zum Vorbild waren als du Ende der neunziger Jahre anfingst? Wie steht es mit dem Vergleich zum (Münchener) Kunstakademiemodell und der Bewegung ‘freier Klassen’? Gibt es da ein bestimmtes Bildungskonzept? Meine Erfahrung ist, dass es im Bereich neue Medien es immer schwieriger wird, umfassend zu definieren was dazu gehört: Die Jugend wird immer jünger und lernt schneller, sich mit Computertechnik und Kommunikation zurecht zu finden.
RH: Meine Erfahrung ist die gleiche: Es macht wenig Sinn streng kanonisch vorzugehen und so zu tun, als könnten wir einen Sockel von Grundwissen definieren, auf dem dann eine künstlerische Ausreifung und Kür gestellt werden könnte. Selbstverständlich braucht es Werkstätten, oder Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen um dennoch unterschiedliche Ausgangslagen auszugleichen, der Vorbildung, der Geschlechter, der Herkunft, der Interessenslagen oder ganz einfach formalisierte Zugänge zu Technologien zu “erlauben”, schließlich sind wir an einer Hochschule in einem institutionalisierten, auch bürokratisierten, Prozess. Solche “Werkkurse” wie ich sie an der Bauhaus-Uni genannt habe, sind aber keine Grundlagenveranstaltungen. Es geht vielmehr um den schnellen Erwerb von Zugangscodes, im wahrsten Sinne des Wortes z.B. um den Erhalt des Studioschlüssels, die Möglichkeit an Geräten zu arbeiten, ins Netz zu kommen: Access ist die Schlüsselqualifikation.
Ich habe beim Nachdenken über eine sinnvolle Medien-Ausbildung Modelle kennen gelernt, die streng hierarchisch, nach Studienalter geordnet Zugangsrechte verteilen. Da darf dann eine Filmkamera erst nach mehreren Kursen und im vorletzten Semester angefasst werden – oder da darf erst nach einem Theoriekonvolut von zwei Semestern On Air oder in die Öffentlichkeit gegangen werden. Das war schon als ich Ende der 90er nach Weimar gegangen bin, mehr der Gutenberg-Galaxis und ihrer bischöflichen Druckerlaubnis verpflichtet, als einer freiheitlichen Demokratie und ist mit MySpace usw. etc. pp. offensichtlich obsolet. Traditionelle Kunstakademien wie die Münchner Akademie, an der ich studiert und später als künstlerischer Assistent gearbeitet habe, die sind in ihrer an sich konservativen Haltung manchmal progressiver als vermeintlich durchstruktierte Reform-Studiengänge. So was muss selbstverständlich sehr genau angeschaut werden. Ein Punkt ist zum Beispiel, dass die künstlerischen, gestalterischen oder, wenn du willst, die konzeptuellen, Fragen im Vordergrund stehen, vom ersten Semester an, und die Werkstätten, aber auch die wissenschaftlichen Angebote eher wie Satelliten um die künstlerische Strategie herum funktionieren. Das erleichtert erheblich die kritische Reflexion, die Entwicklung neuer Ansätze, das transdisziplinäre Arbeiten.
Im Experimentellen Radio habe ich sehr genau darauf geachtet, dass wir wie an Kunstakademien vielfältige Lernsituationen schaffen, im Atelier, im Studio die Studierenden auch voneinander, unabhängig ihrer Semester, möglichst hierarchiefrei, lernen, Erfahrungen, Kompetenzen, Wissen und Haltungen austauschen können. Und dies gilt auch für die Kritik an der Lehre selbst oder an den Künstlerischen Positionen der Lehrenden. Ich komme ja aus der Bewegung der Freien Klassen, aus der Freien Klasse München, die sich in den 80ern als radikale künstlerische Kritik an der akademischen Ausbildung formierte, und dann viele, sehr unterschiedliche Nachfolgegruppen an deutschen Kunsthochschulen auslöste. Ein zentraler Punkt war immer die Kritik an der Meisterklasse. Praktisch gesehen ist eine solche Meisterklasse allerdings viel transparenter als manch wissenschaftliches Lehrstuhl-Königreich. Aus der Erfahrung der Freien Klassen setzt das Experimentelle Radio im Unterschied zur traditionellen künstlerischen Lehre viel stärker auf Verfahren der Selbstorganisation, auf das jeweilige Team, auf Improvisation und direkte Kritik auf Augenhöhe, soweit das möglich ist. Das deckt sich sicherlich auch mit neoliberalen Lastenheften, allerdings geht es bei uns nicht um effizientere Verwertungsstrategien, sondern um die künstlerische und programmliche Freiheit.
GL: Dein Beruf, oder soll ich sagen Berufung, als Bildhauer hat mich immer fasziniert. Die erste Assoziation wäre da Radio als ‘soziale Skulptur’ (Beuys). Stimmt das?
RH: Nein. Oder Genauer: Die Bildhauerei, so wie ich sie erlebt habe und auch lebe, ist offener als die Malerei. Da ist eben auch eine soziale Skulptur wie bei Beuys möglich. Dieser Möglichkeitsraum interessiert mich. Betonung auf Raum. Mein Interesse am Raum. Zum Beispiel im Sinne de Certeau s: “Der Raum ist ein Ort mit dem man etwas macht.” Am Radio interessiert mich zum Beispiel der Raum, den es aufmacht. Ein privater und öffentlicher Raum. Ich habe es mal einen hierarchiefreien Raum genannt, weil Radio keine Richtung im Raum vorgibt wie es die Bildmedien tun oder gar den Körper festnagelt wie z.B. das Kino. Du hast insofern Recht mit Deinem Vergleich, als mich am Radio immer auch fasziniert hat, dass eine Gruppe wirksam wird, obwohl sie gar nicht sendet, wie z.B. bei der Münchner Widerstandsgruppe “Radio Rotterdam” um Walter Klingenbeck, mit der ich mich Anfang der 90er in einer Arbeit befasst habe, oder, dass Radio auch funktioniert, obwohl es keine Hoererinnen erreicht. Da geht es um kollektive oder kollaborative Praxen, um Selbstorganisation, auch um Fragen der Repräsentation oder der Intervention. Alles aktuelle, künstlerische Fragen.
GL: Hast du deine Studenten mit der Welt der Installation und performance vertraut gemacht?
RH: Ja. Manche Projekte waren sogar sehr erfolgreich und die Studierenden wurden auch in überregionalen Ausstellungen oder mit Preisen und Stipendien gewürdigt. Ich fand das auch immer sehr spannend, weil Weimar eher eine Stadt ist, die sich im Gesicherten repräsentiert. Hier etwas in Frage zu stellen, neu und anders zu begreifen oder zu entwickeln, ist besonders aufwändig.
GL: Gibt es so etwas wie das Theatrale im der heutigen Radiopraxis?
RH: Da muss ich passen. Wir haben nur mal das Live-Hörspiel im Rekurs auf Hartmut Geerken aufgegriffen, als Form auf der Bühne, ein Stück realisiert zum Tod von Marcus Omofuma, der in Österreich bei seiner Deportation nach Nigeria getötet wurde, ein Stück das auch den Preis des Leipziger Hörspielsommers erhielt, aber ich habe mich mit dem Theater ansonsten schon länger nicht mehr intensiv befasst; das liegt auch daran, dass in der Fakultät die Professur für Interfacedesign für die Kooperation mit dem Weimarer Deutschen Nationaltheater zuständig ist. Wir kooperieren nur bei den Hörspielen mit einigen Schauspielern und Schauspielerinnen, und das sehr gut, zum Beispiel in einem Hörstück für das Jüdische Museum in Berlin, aber die Kooperation mit dem DNT hatte keine konzeptuelle Zuständigkeit.
GL: Ich wollte eigentlich nicht über das Bildhafte im Klang reden weil das so abgehoben klingt. Musik und Klang leiden in Deutschland an Theorielastigkeit und Elitarismus. Wäre es keine Gefahr in so einer Situation eine neue Medienpraxis und Aktivismus zu dicht an die Kunstdisziplin anzusetzen?
RH: Die Stärke des Experimentellen Radios war ja gerade, dass es nicht an einer Musikhochschule verankert ist oder in der Publizistik oder in den Kommunikationswissenschaften oder in der Literatur usw. wo auch immer Radioausbildung in Deutschland gerne diszipliniert wird. Sondern, dass wir hier frei arbeiten konnten, d.h. für mich im Kontext Bildender Kunst. Das war ja das Einzigartige. Wir waren das erste Radio an einer deutschen Kunsthochschule. Ich denke, das ist auch wichtig, dass es eine solche Verortung gibt, gerade wenn wir die zeitgenössische künstlerische Praxis ansehen, dann werden Fragen nach dem Klang in den Visuellen Künsten und ihrer Ausstellungspraxis, aber auch Fragen nach spezifischen Arbeitsweisen von Radio, seien es journalistische, dokumentarische, recherchierende, darstellende, aufführende usw. immer wichtiger. Das ist ein Aspekt. Als Künstler sehe ich auch keine Gefahr, wenn neue Medienpraxis oder Aktivismus im Kontext der Kunst verhandelt werden, weil ich ja Kunst als eine Erkenntnisweise begreife, und neue Erkenntnisse im Feld des Aktivismus brauchen wir allemal. Selbstverständlich sind wir im Kontext von Kunst mit spezifischen Wertschöpfungen konfrontiert, mit spezifischen Bedingungen des Betriebssystems Kunst, allerdings können wir dessen Institutionen in der Kunst selbst untersuchen, Gefahren benennen, in den konkreten Arbeiten sogar explizit mitreflektieren, viel leichter meines Erachtens als in anderen Feldern, in denen Selbstreflexion schnell in eigene Disziplinen verdrängt wird. Dieses Mitlesen ihrer Bedingungen halte ich für eine Voraussetzung von Kunst; ich kenne schon auch Festivals, die z.B. Radiokunst versprechen, weil sie sich des irgendwie aufwertenden Begriffs “Kunst” bedienen wollen, tatsächlich aber alles mögliche machen, nur gerade keine Kunst, oder weil es selbstverständlich “keine Kunst” gibt, extrem schlechte Kunst zeigen, eben weil die Reflexion des
Betriebssystems in den Arbeiten fehlt. Das verweist auch auf den Elitarismus, den Du ansprichst. Auf das Experimentelle Radio bezogen, war der Aktivistische und interventionale Ansatz ein wichtiger gemeinsamer Nenner, gerade für die sehr vielfältigen formalen Ausgestaltungen, sei es interaktive Performance, Webcasting, Wireless Culture, Hoerspiel, Medienkunst, künstlerisches Feature, Talks, Magazin-Sendung, Dokumentation, Komposition und DJ-Strecken.
GL: Reden wir zum Schluss also über die Zweite Bauhaus-Zerstörung. Stimmt es das es so was gab wie eine Renaissance, Ende der neunziger Jahre? Sollten wir dieses Mythos füttern oder aktiv entgegentreten oder verschweigen das Weimar mal einer der interessantesten Orten im Bereich Ausbildung und neue Medienkunst in Europa war. Man kann die Kritik der Deutschen Provinz bei Nietzsche nachlesen und wir sollten das Spiel vielleicht nicht noch mal aufführen. Trotzdem bin ich gespannt wie Du rückblickend die ersten Jahren siehst: Was Du antrafst und mitgestaltet hast.
RH: Was interessante Orte im Bereich Medienkunst und Ausbildung in Europa betrifft, hast Du sicherlich den allerbesten Überblick. Ich kann nur sagen, dass das seinerzeitige Konzept der Fakultät Medien für mich das spannendste war, was ich damals gelesen hatte, und auch der Aufbau des Experimentellen Radios, wie er mir konzeptuell ermöglicht wurde, war einmalig in Europa. Mein Eindruck war auf jeden Fall, dass mit der Umbenennung in Bauhaus-Universität und der Gründung der Fakultät Medien tatsächlich ein elektronisches bzw. digitales Bauhaus angestrebt wurde, ohne jetzt größenwahnsinnig zu glauben, dass wir hier ein neues Bauhaus seien, aber zumindest ein Ort, der der Moderne verpflichtet ist und an ihrer digitalen Variante arbeitet. Ich erwähne das auch, weil ich in der Rückschau heute eher das Gefühl habe, dass tatsächlich mehr die Marke Weimar profiliert werden soll. Auf jeden Fall nicht mehr die Teilhabe an einer Moderne von hier aus, sondern im Vordergrund steht eher das simple digitale Kopieren des klassischen Erbes der Gegend als neues deutsches nationales Herz.
Neben der von Dir erwähnten Kritik der Deutschen Provinz bei Nietzsche, könnte ich da jetzt auch Harry Graf Kesslers Missverständnis mit Weimar anführen. Erstaunlich fand ich, wie schnell die Lust am Neuaufbau, am Experimentieren und im Profilieren der einzelnen Professuren in ihren Arbeitsfeldern zentralisiert und in Mehrjahrespläne gegossen wurde, bis hin zu Szenarien der Auflösung und der personellen Beschädigung der künstlerischen und gestalterischen Fächer. Nur ein Beispiel: Wir sind jetzt seit drei Jahren gezwungen eine nichtakkreditierte Studienordnung anzuwenden, die nachweislich fachlich falsch und künstlerisch ungeeignet ist, obwohl eine bessere einstimmig beschlossen ist. Das wirkt wie eine voll angezogene Handbremse bei voller Fahrt. Das war am Anfang anders. Da war es möglich, Gas zu geben, volles Risiko und immer knapp am Alleebaum vorbei. Aber früher war auch die Zukunft besser. Wenn ich mir anschaue, was die Studierenden geleistet haben, welche Initiativen an der Universität wie in der Stadt von ihnen ausgingen, von der Gestaltung des Studierendenhaus M18, über Gruppen wie pingfm, subsignal, bauhaus.fm, radiomatic, streaps, spunch u.v.m., oder mir auch anschaue, an was die Absolventen und Absolventinnen jetzt arbeiten oder in welchen Ländern, dann meine ich, das die zu Beginn von mir forcierte Geschwindigkeit sich allemal gelohnt hat.
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