Radiotheory and the future of FM–Interview mit Geert Lovink (in German)

„Heutzutage ist vor allem das Fehlen der sozialen Einbildungskraft das Problem”

Interview mit dem Medientheoretiker und Netzkritiker Geert Lovink von Ivan Sterzinger

Dieses Interview wurde für die Fabrikzeitung geführt, einem alternativen Zürcher Kultur-, Gesellschafts- und Politikmagazin das monatlich erscheint. Das Thema dieser Ausgabe dreht sich um das Radio politischer Apparat, als kultureller Identitätsfaktor und wandlungsfähiges Medium. Die Ausgabe entsteht im Zusammenhang mit einer Ausstellung anlässlich des 35-jährigen Bestehens des Alternativen Lokalradios LoRa in Zürich.

IV: Du hast die Geschichte der freien Radioszene von den späten 70er Jahren bis heute begleitet. In deinem Buch «Das halbwegs Soziale» gehst du in einem eigenen Kapitel der Entwicklung von Community-Radio, Piratenradios hin zum Internet-Radio nach. Die technischen Möglichkeiten des Radio hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Nebst der bisherigen Möglichkeit, eine Community über UKW zu erreichen, stehen heute DAB+ sowie zahlreiche Varianten von Internet-Radio zur Verfügung. Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf die Radiolandschaft?

Geert Lovink: Da gibt es zum einen die statistischen Fakten, die haben uns oft traurig gemacht, weil sie für das Radio nicht gut aussehen. Der Fall des Radios als Medium ist zum Glück durch die neuen Kanäle ein wenig aufgeschoben. Ich würde das dennoch nicht als ‹Wandel› . Eine Wiedergeburt des klassischen Radios, wie es in den achtziger und neunziger Jahren existiert hatte, hat nicht stattgefunden. Stattdessen gibt es die new kids on the block: podcasting und live streaming, beide im Internet. Was Audio-Übertragungen angeht, haben das Internet und die Digitalisierung bisher keine kritische Masse erreicht. Dies hat zu der merkwürdigen Situation geführt, dass klassisches FM Radio an sich nicht verschwunden ist und die Internetentwicklung sich (noch) nicht durchgesetzt hat. Diese regressive Situation sagt viel über unseren Zeitgeist aus: er ist konservativ und langweilig. Es herrscht viel Unbehagen, aber es gibt keine richtigen sozialen Bewegungen (ausser im rechten Spektrum) mehr. Diese Stagnation ist in der alternativen Medienlandschaft besonders stark. Das minoritäre Radio an sich kann also nichts dafür; das Medium ist daran nicht schuld.

IV: Du hast in Holland eine durch die Bevölkerung getragene lebhafte, freie Radioszene erlebt. Auch in der Schweiz gab es in den 1970er und 1980er Jahren eine breite Bewegung für lokale und alternative Radiosender. Was war ihrer Meinung nach die Grundlage für das entstehen einer solchen Radiocommunity in den 80er Jahren? Ist eine solche Bewegung auch heute noch denkbar? Oder ist sie sogar bereits Realität? 

GL: Damals hat der Staat das Sendemonopol abgegeben. Das hat am Anfang zu einem Vakuum an verschiedenen Stellen geführt, vor allem was Radioformate angeht. Denn es geht beim Radio ja nicht nur um den Besitz der Frequenzen. Es gab und gibt es ja immer auch langweilige und kommerzielle Radiopiraten. Doch dieser kollektiver Wunsch, der Wille zu Senden war einfach da; und er existiert nach wie vor. Das Audioreisen, diese taktischen Medienerfahrungen kann uns niemand mehr nehmen. Ich bin keineswegs nostalgisch. Es gibt trotz allem hin und wieder die sogenannten temporären autonomen Zonen, die real existieren: freie Radios die Audiointensitäten ausgepufft haben, als Gabe für die Menschheit, das Universum. Radio ist intergalaktisch. Das senden ins Leere hat etwas abenteuerliches, kosmisches. Wie wir alle wissen geht es ja nicht bloß um ‹gute›  Inhalte. Im Internet passieren diese Experimente heutzutage wieder, allerdings unter andere Bedingungen. Eine Radiorenaissance ist also nicht nur denkbar, sondern die gibt es tatsächlich. Das Netz pflegt aber einen völlig anderen Umgang mit dem Publikum; was da fehlt ist die Unsicherheit des Empfangens. Sie wurde ersetzt durch die Echtzeit und die knallharte Wahrheit der messbaren Rezeption: «349 Hörer haben deinen Podcast angehört». Unser Problem derzeit ist aber nicht das (vielleicht inexistente) Publikum, sondern das Suchen, die Auffindbarkeit, die Zerstreuung unserer kurzen und gelenkten Aufmerksamkeitsspanne in Richtung weniger Kanälen wie Instagram, Facebook und Twitter. Es sind die sozialen Medien, die unsere Medienwirklichkeit und -wirksamkeit prägen, nicht unsere podcasts und live streams. Im Netz ist das bloß ‹content›.

IV: Die Anzahl Hörerinnen und Hörer galt doch aber bereits früher als das Richtmaß für die Relevanz eines Rundfunkmediums. Nicht zuletzt aufgrund der Hörerbasis konnten sich (zumindest die werbetreibenden) Radios finanzieren. Wie hat sich die Bedeutung von Hörerzahlen denn heute für ein Radio verändert? Und für eine kulturelle Bewegung?

GL: Das Problem heute sind nicht die Zahlen selbst, hoch oder niedrig, das ist ja relativ. Was uns fasziniert – und zugleich wahnsinnig – macht ist, wie gesagt, die nackte Wahrheit der Zahlen, wieviele Likes wir bekommen, das Warten, den Suchtaspekt der Statistik. Niemand außer Werbeverkäufern interessiert sich für die absoluten Zahlen der Radioprogramme. Dass ‹Viel› nicht zwingend ‹gut› heißt, das wissen mittlerweile alle… Aber, gibt es aber eine community? Macht es Spaß? Ist das Radio Teil einer Szene? Werden wir herausgefordert? Das sind die Sachen die wichtig sind.

IV: Youtube hat sich bei Jugendlichen zu der bevorzugten Plattform entwickelt, über die Musik gehört wird. Was macht Plattformen im Gegensatz zu unabhängigen Streamingmöglichkeiten so attraktiv? Und was macht Google bei Youtube besser als z.B. Spotify?

GL: Attraktiv und erfolgreich ist derzeit alles worüber wir nicht nachdenken müssen, da es einfach da ist und reibungslos funktioniert. Wir sind jenseits des Suchens und sind nicht mehr gespannt aufs Neue. Das Auftreiben von interessanten Sachen nervt nur. Im Zeitalter der ‹recommendations› wissen die Plattformen bereits alles über unseren Geschmack, wieso sollen wir also noch suchen? Spotify geht es übrigens gar nicht so schlecht. Das Problem ist nur, dass solche Onlinedienste einfach nicht mehr exponentiell wachsen können. Der Markt ist bereits verteilt.

IV: Spielen Communities wie die Sammler und Händler, die sich auf der Musik-Enzyklopädie Discogs treffen und dort oft mit Youtube-Hörproben arbeiten hierbei eine Rolle?

GL: Durchaus. Alle sind Teil der Monopolplattformen und tragen zu deren Attraktivität bei. Wir haben als Internetaktivisten und Entwickler diese einfache Logik lange ignoriert. Und irgendwie glauben wir immer noch intuitiv, dass Vernetzung dezentral verläuft und auch auf der Infrastrukturebene eine Vielfalt produziert.

IV: Die Einfachheit von Radio diente im letzten Jahrhundert immer wieder als Mittel zur Umgehung von staatlicher oder kommerzieller Einflussnahme. Das Free-To-Air-Prinzip ist verblüffend einfach und effektiv. Wie steht es um diese Funktion des Radios in Zukunft?

GL: Ich weiß nicht ob das wirklich der Fall ist. Stellen wir uns vor, alles verschwindet ins Netz. Was passiert dann mit den Radiofrequenzen? FM und AM werden verschwinden und wahrscheinlich von anderen Akteuren (z.B. Militär, Telekommunikationsbetrieben) übernommen. Die Frequenzbreite und die Möglichkeiten bleiben zwar bestehen. Aber die Geräte werden allmählich verschwinden. Eine Wiedergeburt des FM-Radios ohne Geräte ist kaum denkbar, obwohl es, relativ einfach wäre. Es kann aber nur ‹effektiv› sein, wenn eine kritische Masse von Hörern trotz allem die Hardware pflegt oder einer community zeigt wie einfach es ist, sich sich sowas zusammenzubasteln. Realistischer ist aber das Szenario einer ‹remediation›. Das heisst, wir machen ‹Radio›, aber wir verbreiten das Signal nicht mehr über den Aether. Oder schon über den Aether, aber das heisst dann Wifi…

IV: Rein theoretisch kann ein Radioprogramm heute weltweit und zeitversetzt empfangen werden. Die mit dem weltumspannenden Internet verbundenen Hoffnungen auf mehr und besseren Zugang zu Informationen haben sich jedoch eher ins Gegenteil gekehrt. Gesetzliche Depublikationspflicht sowie Empfangsbeschränkungen aufgrund Ländergrenzen sind allgegenwärtig. Welche Zukunft haben solche Beschränkungen?

GL: Die heutigen Möglichkeiten mögen tatsächlich endlos sein, die Realität jedoch leider eine ganz andere. Doch warum nutzen wir diese Möglichkeiten nicht? Das fasziniert mich. Erich Fromm hat 1941 das Buch «Fear of Freedom» geschrieben. In den USA heisst es «Escape of Freedom». Wir müssten seine Thesen eigentlich umschreiben und aktualisieren. Das könnte, wenn es schief geht, in Richtung von AfD, Geert Wilders, Marine Le Pen, Trump und alt.right gehen. Spannender wäre es aber eine klassische (und tendenziell langweilige) politische Analyse zu kombinieren mit unserer regressiven Haltung gegenüber Technik, Medien und deren globalen Möglichkeiten. Natürlich können wir uns beschweren über die top-down Beschränkungen wie institutionelle und politische Zensur im Netz, die Abschaffung der Netzneutralität und die neue geopolitische Abschottung. Die andere Richtung, neben Politik, wäre dabei  aber die technologische ‹Freiheit› die uns die neuen Medien bringen. Zu Beginn war das vor allem eine technische Freiheit, aber heutzutage ist vor allem das Fehlen der sozialen Einbildungskraft das Problem.

IV: Woran fehlt es denn, dass trotz der technischen Freiheit keine kritische soziale Einbildungskraft entsteht? Und, existieren denn keine Vorbilder, bei denen du Hoffnung hast?

GL: Digitalmaterialismus ist heute sowas wie damals in siebziger Jahren StaMoKap (Staatsmonopolkapitalismus), ein Vulgärmarxismus der alles ökonomistisch erklären und die komplexe und paradox gelebte Wirklichkeit durch den Klassenkampfblickwinkel zu pressen versuchte. Heutzutage wäre das die Medienbrille. Das Problem ist, dass Vernetzung (wie damals die Soziale Frage) nicht automatisch Befreiungsbewegungen hervorbringt. Bewusstsein allein führt nicht direkt zu Organisation und schon gar nicht direkt zu Veränderung. Vorbilder, die Hoffnung erzeugen gibt’s genug. Die Alternativen im Internetbereich haben aber derzeit das Problem, dass sie nicht skalieren und nicht schnell genug wachsen. Wir erwarten von allen Alternativen dass sie möglichst schnell eine kritische Masse erreichen. Statt diesen Mainstreamismus sollten wir kleine Versuchsstationen aufbauen, die intern gut funktionieren; das was Ned Rossiter und ich ‹organisierte Netze› genannt haben, mit starken Kernen, nicht gebaut auf schwachen, zeitliche Verbindungen.

IV: Norwegen hat 2017 als erstes Land der Welt die nationale Radioverbreitung von UKW auf DAB+ umgestellt. Seit diesem Jahr hört man viele Stimmen, die den Schritt für einen Fehler halten. In der Schweiz steht die Umstellung ebenfalls in den nächsten Jahren bevor. Wie ist deine Einschätzung zur einer Umstellung?  Und was passiert mit UKW nach einem Wechsel auf DAB+? Was geschieht mit den frei werdenden Frequenzen? Erleben alternative Radiosender und experimentelle Formate einen zweiten Frühling?

GL: Ich glaube ebenfalls, dass DAB+ ein Fehler ist. Aber Meinungen zählen nichts, wenn wir nicht auch rasch politisch handeln und FM aktiv verteidigen und DAB+ verhindern. Unsere Argumente dürfen dabei nicht bloss nostalgischer Natur sein. Aber eine derartige Kampagne wird nicht so schnell passieren, weil lokales Radio im Westen nicht als vitale Informationsquelle erfahren wird. Das mag vielleicht anderswo so sein, aber nicht hier… Wir sollten uns aber Bemühen, die freiwerdenden Frequenzen und Spektren als Teil der ‹commons›-Bewegung für uns in Anspruch zu nehmen. Aber auch hier ist die Überlegung wichtig, was damit alles für Konsequenzen verbunden sind, wenn auch die Kommunikationsgeräte selbst obsolet werden und verschwinden – so wie die VHS-Recorder, Kassettendecks und Plattenspieler auch aus den Wohnzimmer verschwunden sind. Oder die Kurzwelle.

IV: Der Wechsel von UKW auf DAB+ und IP-Radio ist nicht nur ein technischer, sondern es ist anzunehmen, dass er auch Auswirkungen auf die Produktions-, Sende- und Hörgewohnheiten haben hat. Welche Veränderungen in der Kultur kannst du bereits beobachten?

GL: Im Radiobereich ändert sich nicht viel. Die Digitalisierung der Aufnahmen usw. ist abgeschlossen. Alles kann noch mal um so viel kleiner und billiger werden, klar. Aber was bleibt ist die Ausbildung und das Talent. Und die Hoffnung, dass die Ideen irgendwann wieder ausschlaggebend sein werden. Ideen, Kritik und Forschung sind nun mal nicht umsonst. Der Wille zu senden mag da sein, aber ohne Kreativität und Eigensinn wird Radio bald nicht mehr besonders interessant sein, egal ob es über FM, DAB+ oder das Internet gesendet wird.

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