Verlangsamung der Zeit – Interview mit Geert Lovink (von Juliane Stiegele)

Interview mit Geert Lovink, Amsterdam, 21.6.2010 — von Juliane Stiegele (für eine geplante Veröffentlichung)

Die Verlangsamung der Zeit halte ich für ein sehr plausibles Zukunftsszenario

JS: Sie arbeiten nicht nur an einer kritischen Archäologie der Internetkulturforschung, sondern auch an der Mitentwicklung künftiger Sichtweisen. Können Sie dabei mit dem Begriff Utopie etwas anfangen?

GL: Das steht wieder an. Im Moment haben wir allerdings eine umgekehrte Bewegung gemacht. In seinen Anfängen, Mitte der 90er Jahre, war das Internet noch stark verbunden mit einer gewissen Utopie der globalen Kommunikation – vielleicht nicht gerade mit dem Befreien von, aber dem Zurücklassen bestimmter kultureller Identitäten, mit der Idee, dass man das Existierende überwinden oder anders entwerfen könnte. Dann aber hat es sich entwickelt, verbreitet, im guten Sinne des Wortes auch demokratisiert. Das Ganze verkommerzialisierte sich. Danach haben wir den Dotcom Sturz gehabt, und nach dem 11. September eine verstärkte Einmischung staatlicher Behörden, vor allem des Sicherheitsapparats. Die Kontrollmechanismen haben eindeutig zugenommen.

Nachdem sich das Internet aus der ersten Rezession rehabilitierte ist auch ein gewisser Realismus, eine Normalisierung eingetreten. In vieler Hinsicht verschwand diese Verbindung zwischen Internet und Utopie eigentlich, und es ist Teil des Alltags geworden, auch im ambivalenten Sinne des Wortes. Jetzt sind wir – ich will nicht gerade sagen – am Ende dieser Entwicklung, aber man kann schon ahnen, dass vor allem die Idee einer globalen Kommunikation unter der herrschenden Sichtweise wieder utopisch wird. In diesem Sinne sind wir wieder da angekommen, wo wir vor 20 Jahren waren.

JS: Vom Globus zum einzelnen Menschen, der das Internet zum raumgreifenden Bestandteil seines Alltags gemacht hat. Warum empfinden wir, wenn wir lange Zeit vor dem Computer zubringen, ein Gefühl der Selbstauflösung, des sich Verlierens?

GL: Man muss aufpassen, was man in diesem Zusammenhang mit Selbst meint. In unseren Begriffen bedeutet das Selbst vor allem die Selbstdarstellung im Netz. Eigentlich kann man sagen, dass in dieser Hinsicht vor allem in den letzten Jahren überhaupt keine Selbstauflösung stattgefunden hat, sodern eine Stärkung des Selbst, viel ausgeprägter, eindeutiger, sichtbarer. Was Sie aber vermutlich mit Selbstauflösung meinen, ist der körperliche Teil des Selbst.

JS: Ich meinte dieses Phänomen, dass man eigentlich nur noch drei Finger benutzt und den Kopf – der Rest des Körpers schläft ein. Und bereits nach wenigen Tagen intensiver Arbeit vor dem Bildschirm nimmt man erste Anzeichen von Realitätsverlust an sich wahr.

GL: Das ist nun keine Selbstauflösung im Sinne von Identität, denn die Identität wird nur weiterentwickelt im Netz. Das Problem ist, dass diese Entwicklung sich autonom und ohne Rückkoppelung zur physischen Welt weiterbewegt. Man kann auch sehen, dass sich dieses Phänomen über bestimmte Krankheiten äussert. Das bedeutet, dass manche damit klarkommen, viele auch nicht. So wird es im Moment auch diskutiert. Wahrscheinlich ist es so, dass viele junge Leute erst einmal nichts davon merken. Die Folgen werden erst später sichtbar, wenn sie älter werden. Die psychischen Krankheiten oder die Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung, die wir im Moment nur ahnen können, werden möglicherweise erst in zehn, zwanzig Jahren zum Vorschein kommen. Vielleicht haben die Leute dann beispielsweise Schwierigkeiten, sich in einer privaten Beziehung für längere Zeit mit einer anderen Person auseinanderzusetzen. Es kann auch sein, dass Konzentrationsprobleme, die im Moment wie ein Vorteil wirken, ihnen später zum Nachteil werden. Aber das hängt natürlich wiederum auch von der Zeitentwicklung ab. Wenn man davon ausgeht, dass die Beschleunigung der Gesellschaft immer weiter vorangetrieben wird, kann man auch sagen, dass die Leute, die da mithalten können, ihren Vorteil haben werden. Man kann also nicht durch die Bank feststellen, dass es nachteilig für alle werden wird.

JS: Wir haben ja auch oft den Eindruck, dass unser Zeitempfinden, das immer noch an eine körperliche Verankerung gebunden ist, vor dem Computer verschwindet. Müssen wir ein neues Bewußtsein für die Zeit entwickeln?

GL: Ich denke vor allem, dass eine neue Ethik über die Bildung entwickelt werden und sich in Schulen, in Familien und im sozialen Leben verankern muss. Wir müssen eine Art und Weise finden, diese neuen Medien einerseits einzubauen, aber andererseits auch ihren Einfluss zu begrenzen, also eine bestimmte Art von Umgehen damit zu kultivieren. Man kann es auch ein bisschen positiver ausdrücken: vielleicht werden nach ein paar Jahren viele Leute das Interesse daran verlieren. Wenn es nicht ein unbedingter Teil der wirtschaftlichen Realität wird, wenn Leute nicht gezwungen werden, diese Medien in ihrer Arbeitswelt zu benutzen, dann glaube ich, gibt es eine Möglichkeit, sie wenigstens teilweise wieder loszuwerden. Das Problem ist natürlich, je mehr Leute in diesen Prozess einbezogen werden, und je  mehr diese Beschleunigung eine wirtschaftliche Logik und Notwendigkeit hat, desto schwerer löst man sich daraus. Zwar kann man anregen, den Lebensstil zu ändern, aber wenn die Verhältnisse sich nicht gleichzeitig ändern, bleibt es unrealistisch. Man kann den Leuten auch sagen, ihr müsst das eben nach der Arbeitszeit in Eurem Privatleben kompensieren. Ich glaube aber, daß wir noch einen Schritt weiter machen müssen. Wir dürfen unsere Ideen nicht nur so entwickeln, daß wir Teil der „Fitnesscenter“ werden. Ich glaube, die Philosophie und die Theorie müssen mehr sein, als nur Erfüllungsgehilfe. Das hoffe ich doch.

JS: Die Neuen Medien besetzen oft die Leere, die das Wegbrechen des neuzeitlichen Subjektbegriffes hinterlassen hat. Wir werden geformt durch Medien, deren Grenzen wir noch nicht annähernd kennen. Unserer Gadgets sind „voll upgedated“, aber unsere Seelen hängen immer noch in jahrtausende alten ungelösten Fragen. Ein Spagat…

GL: Wir können uns dieser Frage wenigstens noch stellen, aber die große Mehrzahl der Menschheit macht einen noch viel weiteren Sprung. Die Leute in Lateinamerika, Afrika und Asien sind die große Mehrzahl der Benutzer der Neuen Medien. Wir können uns als europäische Subjekte noch Gedanken dazu machen und haben auch in finanzieller Hinsicht noch den Freiraum dazu. Ich denke, die Benutzung der Neuen Medien in anderen Teilen der Welt ist noch viel krasser als in Ihrer Frage angedeutet. Der Sprung ist für archaische Gesellschaften noch viel grösser. Man kann aber auch feststellen, dass vor allem die sozialen Verhältnisse, aus denen die Leute kommen, trotz der großen Auswirkungen der Urbanisierung und auch der Beschleunigung des Alltags in ihrer Entwicklung noch hinterher bleiben. Wieviele Leute sind wirklich in der Lage, ihre Familienzusammenhänge oder tribalen Zusammenhänge zu verlassen? Man sieht, dass das trotz grosser Veränderungen nicht so einfach ist, und dass die Leute auch sehr nach neuen Verbänden suchen, etwa in der Religion.

Man muss ein bisschen aufpassen, das nur als komplette Entwurzelung zu sehen. Ich glaube, diese Entwurzelung ist etwas, das wir in den letzten 50 Jahren in Europa praktiziert haben, aber anderswo auf der Welt sehe ich das so nicht. Ich sehe allerdings ein hohes Mass an Ent-wurzelung durch arbeitsbedingte oder ökonomische Migration. Ich bin nicht sicher, ob man das so einfach auch in den sozial-psychologischen Bereich übertragen kann. Dieses Befreiungsmoment, das wir hier in Europa durch die 68er-Bewegung und andere soziale Bewegungen erlebt haben, findet anderswo einfach nicht statt, jedenfalls nicht in diesem Sinne.

JS: Auf unsere Gesellschaft bezogen kann man feststellen, dass das Internet eigentlich auch den  perfekten Ort bietet, um Realitätsflucht zu vollziehen. Wenn man will, kann man endlos im ausgestalteten Designer-Zuhause in kuscheligen Facebook-Netzwerken rumhängen, sich mit Surfen ohne Konsequenz auf die Tat bei Laune halten, oder im Dauerchat mit dem Freuden aufgehen. Es kann aber auch die Gefahr einer kultivierten Machtlosigkeit darin liegen. Wie kriegt man gesellschaftlich relevante Gestaltungskräfte der Menschen wieder mehr nach aussen?

GL: Die Technologie selbst geht ja in eine ganz andere Richtung. Sie geht weg aus dem Arbeitszimmer und der Bürowelt. Die Entwicklung läuft darauf hinaus, dass diese Medien umfassend und offensiv in das soziale Leben eingebaut werden. Die Gefahr, dass man vereinzelt oder zuhause bleibt, ist dabei nicht so groß wie das Problem der völligen Mobilisierung jedes Einzelnen durch sie. Die Entwicklung führt dahin, dass die Medien sind schon da sind, wo immer man auch hingeht. Es wäre schön, wenn man sie ausschalten könnte, wenn man nach Draussen geht. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren werden sich Vernetzung und Echtzeitkommunikation hauptsächlich im urbanen Raum abspielen. Wir müssen uns eigentlich darüber Gedanken machen, was das bedeutet. Und vielleicht werden wir dann nostalgisch an die Zeit denken, wo der Computer eigentlich nur im Büroraum stand.

JS: Eine relativ neue Art der Kommunikation sind die Blogs. Sie muten von Sprachduktus und Inhalt oft eher wie digitalisierte Gespräche beim Bier am Abend an. Vielen fehlt die Intensität und Qualität, die nötig ist, um gemeinsam mit anderen an einer Idee zu arbeiten. Geht es dabei eigentlich überhaupt noch um die Verwirklichung der Idee im physischen Raum?

GL: Es geht vor allem darum, dass über die Blogs eine Digitalisierung von informellen Gesprächen stattfindet, die dazu führt, dass diese informellen Gespräche vernetzt sind, dass sie archiviert sind und damit suchbar, und vor allem auch findbar. Das hat es so in der Vergangenheit noch nicht gegeben. Die Suchbarkeit des informellen Raumes ist enorm. Für das Marketing ist das gut, es ist auch gut für Leute, die kulturelle Informationen oder etwas über Mode herausfinden möchten, oder darüber, was gegenwärtig politisch so ansteht, welche Gedanken sich andere dazu machen.

Die Archivierung von einzelnen Gesprächspartikeln ist immens. Diese Maschine wurstelt natürlich ununterbrochen durch, forstet durch, entweder auf der Suche nach neuen Trends, vielleicht auch nach Ausnahmen, Extremisten, Fundamentalisten. Demzufolge findet weniger eine Differenzierung statt, sondern eine Normalisierung (?). Es werden einfach neue Marke-tingtechniken entwickelt, die vor allem auf eine Rationalisierung und Beherrschbarmachung von fragmentierten Öffentlichkeiten abzielen. Es ist ein Bewirtschaften von Teilöffentlichkeiten, was stattfindet.

In diesem Sinne haben Sie recht, da gibt es auch keinen großen Traum mehr, dass man sich an die Gesellschaft als solche wendet. Das geschieht nur noch bezogen auf relativ überschaubare Teilöffentlichkeiten. Den Anspruch, dass man sich politisch um die Gesellschaft als solche kümmert, haben nur die wenigsten. Diese einzelnen Teile werden sich möglicherweise kultivieren. Es ist eigentlich der Traum, dass sich die Gesellschaft über die Kultur der Einzelnen revolutioniert. Der Gedanke stammt schon aus den 70er Jahren, dass man nämlich über die grosse Politik nichts ändert, sondern nur über diese Mikrorevolutionen noch etwas an fundamentalen Veränderungen erreichen kann.

JS: Das Internet ist voller Schaltstellen, die den Datenfluss beobachten, überwachen und zensieren. Zugleich beobachten wir eine zunehmende Sorglosigkeit der Jugendlichen im Umgang mit der Gefährdung ihrer Privatsphäre durch das Internet. Sind unsere Kontrollängste für die kommenden Generationen einfach nicht mehr nachvollziehbar?

GL: Ich glaube, sie sind nicht mehr nachvollziehbar. Das Problem ist aber auch, dass sie keine richtigen Beispiele haben, wo es schief ging. Dann wäre es ganz einfach zu vermittlen. Die Gesamtlage stellt sich sehr diffus dar, sodass man nur ahnen kann, was man über diese Profile alles erstellen, wieviel man über den Einzelnen herausfinden kann. Es ist aber gut möglich, dass solche Systeme wieder verschwinden. Wenn Facebook sich auflöst, dann verschwindet damit auch diese ganze Datenbank.

Die Idee, dass das Netz alles in sich hineinfrisst und alles behält und potentiell alles erinnert werden kann, stimmt wohl technisch, aber das ist nur ein mögliches Szenario, ein möglicher Weg, den die Entwicklung nehmen kann. Es kann auch sein, dass sehr viele Daten zwar nicht aktiv gelöscht werden, aber in Verfall geraten oder sich verlaufen.

Man kann vielleicht darauf vertrauen, dass die Daten von vor fünf oder zehn Jahren verschwunden sind, aber darum geht es, denke ich, nicht so sehr. Es geht darum, was du vorgestern geschrieben hast. In dem Sinne wird sich die Erinnerung des Netzes immer mehr auf die Informationen beziehen, die in Echtzeit generiert werden. Was mich an dir interessiert, ist, wo du gestern Abend warst, und nicht was du vor zehn Jahren gemacht hast. Es kann gleichwohl sein, dass irgendwelche Maschinen das noch erinnern können.  Was aber den professionellen Bereich der Jobs anbelangt, denke ich, muss man sehr wohl aufpassen – nicht auf lange Sicht, sondern auf kurzfristig kommunizierte Ereignisse.

JS: Wie könnte das ideale Netzwerk der Zukunft aussehen?

GL: Ich glaube sehr an das Bild des Staubsaugers. Staubsauger haben die Welt revolutioniert, trotzdem sind wir nicht den ganzen Tag mit der Politik des Staubsaugers beschäftigt. Er wird zwar überall relativ häufig eingesetzt, aber wir nehmen ihn eigentlich gar nicht mehr wahr. Wir benutzen ihn manchmal, holen ihn aus dem Schrank und machen die Wohnung sauber, und es gibt Leute um uns herum, die Staubsauger benützen. Aber wir glauben nicht, dass Staubsauger wirklich strategisch wichtig sind für die Zukunft der Menschheit. Obwohl sie relativ wichtig sind: sie sorgen dafür, dass die Umwelt hygienisch bleibt, sind von Elektrizität abhängig, usw. Man kann also sehr wohl darüber Vergleiche anstellen. Ich hoffe, dass die Internet-Vernetzung und die mobile Telefonie über die Zeit doch an Bedeutung verlieren und in den Hintergrund verschwinden. Sie existieren, erfüllen eine gewisse Funktion, sollten aber nicht Tag und Nacht präsent sein, wie wir auch nicht den ganzen Tag und die ganze Nacht mit dem Staubsauger zugange sind. Das wäre mein Idealbild.

JS: Ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger.

GL: Und trotzdem technologisch – nicht archaisch. Staubsauger sind nicht archaisch, sie haben wirklich die Lebenswelt eines Haushaltes verändert, vereinfacht. Aber im Moment ist es natürlich überhaupt nicht so. Ich würde sagen, es ist das genaue Gegenteil. Die Technologie ist überpräsent, und wir sind obsessiv damit beschäftigt.

JS: Das „Geräusch“ ist den ganzen Tag da….

GL: Das ist es aber auch weil wir zuhören. Wir schalten es nicht ab, wir stellen es nicht weg. Ich denke, dass die übernächste Generation davon zutiefst gelangweilt sein wird. Man kann jetzt schon Tendenzen beobachten, dass die Generation, die gegenwärtig heranwächst, das Ganze langweilig findet, vor allem den Kommunikationsaspekt. Was Computerspiele angeht, da bin ich mir nicht so sicher, die appellieren eher an andere Persönlichkeitsschichten, den homo ludens.

JS: Eine andere Sache ist noch die zunehmende Miniaturisierung technischer Gerätschaften, die mitunter in ihrer Winzigkeit kaum noch benutzbar sind.

GL: Nun, die Mehrzahl der Menschheit kommt ja aus Asien, wo die Menschen kleiner sind (obwohl die rasch wachsen). Wir aus Europa sind in der Minderheit, was die Physiognomie angeht, vielleicht zusammen mit den Afrikaner, die sind ja auch nicht gerade klein.

JS: Vielleicht wird erst Ruhe sein, wenn die Geräte so geschrumpft sind, dass sie so gut wie unsichtbar werden. Könnte das möglicherweise ein Prozess sein, der zu der Schwelle hinführt, wo sie „unbemerkt“ ins Körperinnere hinüberwechseln?

GL: Nein, nicht in den Körper, sondern in die Umwelt werden sie eingebaut werden. Das ist meine Theorie des Schrankes, dass sie sich im Inneren eines Schrankes verbergen werden. Dass sie jedoch ins Körperinnere eingebaut werden, glaube ich nicht. Eher rechne ich mit einer sphärische Präsenz. Die Verkörperung findet vielleicht auf eine andere Art statt, dass wir konditioniert werden, uns so zu verhalten.

JS: In dem Sinne, dass eher unser Empfinden die Maschine durchdringt?

GL: Ja. Ich glaube, es wird mehr auf diese Weise von aussen nach innen dringen. Das umgekehrte Bild ist vielleicht doch auch zu sehr geprägt von einer westlichen Subjektivität, die anderswo nicht vorhanden ist.

JS: Ich würde gerne noch die Zukunft des Buches befragen. Wir sehen die Entwicklung hin zu iPad, e-book, Kindle, zu bewegten Buchstaben, die mit Bildern kombiniert werden und den Inhalt der Literaur gleich „erklären“ – aber wie sieht es mit den eigenen inneren Bildern aus, die beim Lesen entstehen können?  Sehen Sie für das Gutenberg-Buch eine Überlebenschance?

GL: Die Mehrheit der Leute, die aufwachsen und zur Schule gehen, werden zwar noch Bücher lesen, aber nicht mehr Papierbücher – einfach aus Kostengründen. Und das auch, weil die große Mehrzahl der acht oder neun Milliarden Menschen in Zukunft eine schulische Erziehung bekommen wird. Wir können uns das jetzt noch nicht vorstellen, aber ziemlich bald werden die Analphabeten von heute einbezogen sein. Aus einer Vielzahl von Gründen wird dieser Standart einfach für alle gewährleistet sein müssen, aus ethischen, ökonomischen und politischen Gründen. Eine seltsame Mischung aus Kontrolle und Emanzipation steht dahinter. Das sieht man zum Beispiel in Indien sehr gut, wenn man die Diskussion über den Personalausweis verfolgt, der dort für alle eingeführt werden soll. Es ist der erste Versuch in Indien, einen kompletten Zugriff auf seine 1,2 Milliarden Staatsbürger zu erreichen.

Ich denke auch immer an die hunderten Universitäten, die im Moment in China im Bau sind. Diese ungeheure Steigerung wird dazu führen, dass mindestens zwei oder drei Milliarden Menschen zusätzlich eine höhere Ausbildung erhalten werden. Und die kann man nicht alle mit Papierbüchern versorgen. Das alles bedeuet, daß ein enormer Markt entstehen wird, und die Preise von E-Readers oder dergleichen enorm sinken werden. Was wir jetzt noch als emanzipatorische Projekte ansehen, wie beispielsweise Nicholas Negropontes Projekt „One Laptop­ per Child“ [www.laptop.org], das sind die wirklich utopischen Projekte. Sie werden eine enorme Zukunft in Sinne des Marktes haben.

Und das geht komplett über die Frage hinweg, die Sie hier stellen. Die Frage finde ich richtig, die Frage ist nämlich, wie liest man noch? Kann man über einen Bildschirm ein Buch noch angemessen lesen als den Entwurf eines Autors, der einen Gesamtblick präsentieren will, sei es als Studie, als Novelle oder Roman. In der Gegenwart wird das Buch ungeheuer fragmentiert, vor allem wegen der Such- und Findbarkeit. Was das Buch erodiert, ist, dass es jetzt zum ersten mal suchbar ist. Das war es früher nicht. Man musste immer das ganze Buch durchlesen, musste sich an den Inhalt erinnern, wenn man es gelesen hatte. Wenn man keine Ahnung vom Inhalt hatte, musste man das Buch richtig durcharbeiten, sich Notizen machen, zusammenfassen, usw. All diese Vorgänge sind jetzt automatisiert.

Was damit einher geht: das Kurzzeitgedächtnis wird ausgelagert. Dieses Kurzzeit-Erinnerungsvermögen braucht man nicht mehr zu entwickeln, es ist eigentlich nicht mehr nötig. Da werden sich semantische Felder entwickeln. Und Lernen bedeutet dann auch, dass man beispielsweise nicht mehr von einzelnen Inhalten eine Ahnung hat, sondern von semantischen Feldern. Man braucht auch eine Ordnungsstruktur, die einem ermöglicht, zu navigieren, zu suchen. Es läuft aber nicht mehr über das Verstehen und interpretieren einzelner Kunstwerke oder Arbeiten.

JS: Die Neue Medien Kunst zeigt sich oft mit einem Riesenaufwand an faszinierender Technik, während im Verhältnis dazu der Inhalt eher in Mausgrösse daherkommt. Der Inhalt scheint mitunter fast ein Vorwand zu sein, die Technik anzwenden. Verhindert das hochenwickelte Spezialistentum der Neue-Medien-Künstler ­– schon bedingt durch die zeitliche begrenzte Kapazität – dass sie gleichzeitig noch Zugang zur Intuition, zum freien Spiel behalten, um zu Ideen von auch inhaltlich vergleichbarem Niveau an Qualität zu kommen?

GL: Ihre Beobachtung teile ich. Es gibt eine Faszination für die Komplexität und für die technologische Grenzsituation. Dieses Faszinosum erkenne ich in meiner eigenen Arbeit auch: sich zu beteiligen an einer Vorfront, ganz vorne zu sein. Teilweise hat es natürlich damit zu tun, dass es vor allem im 20. Jahrhundert sehr gut aufgenommen wurde – und immer noch wird – wenn die Künstler keine Fragen stellen, nicht reflektieren, sondern Teil der Avantgarde, also ganz vorne sind. Diese technologische Fronterfahrung zu machen, hat auch den – legitimierenden – Aspekt, dass man sich aktiv an der Gestaltung der Zukunft beteiligt. Wir müssen aber, denke ich, einen anderen Begriff davon entwickeln, wie man sich auch durch Reflektieren, durch Kritik, durch Innehalten oder Stillstehen an der Zukunft beteiligt.

JS: Ein nur scheinbares Paradox…

GL:  Sie haben recht: diese Art, Medien-Kunst zu betreiben, führt eigentlich zu nichts, führt zu einer inhaltlichen „Maus“, obwohl ich nichts gegen Mäuse habe.  Aber auch hier gehen wir wieder zurück auf die Idee, dass sehr viele Entwicklungen auf Mikrorevolutionen abzielen und nicht mehr auf grosse Gesamtbilder der Gesellschaftsordnung.

JS: Wie sieht es mit technologie-intensiven Kunstformen und ihrer Beziehung zur Wissenschaft aus? Raymond Chandler hat mal gesagt: „Die Wahrheit der Kunst verhindert, daß die Wissenschaft unmenschlich wird, und die Wahrheit der Wissenschaft verhindert, daß die Kunst sich lächerlich macht…“

GL: …damit bin ich überhaupt nicht einverstanden! Die Wissenschaft hat sich so weit entwickelt, und ist, vor allem wenn man sich mit life science befasst, in ihren Budgets und Institutionen sehr stark angewachsen. Zu glauben, dass da überhaupt noch eine Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Forschung und Kunst stattfindet – ich denke, man macht sich da lächerlich.

Was man aber sagen kann, ist, dass wir daran glauben, dass es so etwas geben müsste. Man kann es also fordern! Das halte ich für sehr, sehr sinnvoll. Zu sagen, es gibt ein intrinsisches Verhältnis fast auf metaphysischer Ebene, dass die zwei Bereiche zueinander verurteilt sind, dass sie sich irgendwie zueinander verhalten müssen – das mag sein, aber es findet nicht statt. Das Problem ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Wissenschaft und Kunst enorm weit von einander entfernt sind.

Es gibt Leute die fordern, dass wir über die Kunst und die Bildung versuchen müssen, zu einer Annäherung zu kommen. Das finde ich richtig und unterstütze es auch. Aber die gesellschaftliche Realität ist leider eine ganz andere. Ich befasse mich mit wissenschaftlicher Forschung und weiss, dass 85% aller Gelder der EU beispielsweise in die Mathematik, die Life Science usw. gehen. Die restlichen 15% fliessen hauptsächlich an die Sozialwissenschaften. Für Kunst und Geisteswisenschaften bleibt immer weniger übrig. Das bedeutet, wir werden immer weiter marginalisiert. Es ist Marginalisierung, die stattfindet, und nicht eine holistische Synthese zwischen Kunst und Wissenschaft.

JS: Zu einer besser funktionierenden Art der Kollaboration: zunehmend lässt sich beobachten, dass in der Neue-Medien-Kunst das Kollektiv als Arbeitsform an Bedeutung gewinnt. In der Interventions-Kunst beispielweise gibt es Kollektive, die schon lange nicht mehr an einer individuellen Autorenschaft interessiert sind. Wo verlaufen die Grenzen von Kollaborationen, kollektiver Autorenschaft, und dem Bedürfnis, als Kreator der Idee nicht völlig in der Gruppe zu verschwinden?

GL: Diese Frage finde ich sehr interessant, auch weil es immer mehr Techniken gibt, die die Arbeit in Kollektiven einfacher machen. Ich glaube wir sind durch eine bestimmte Phase durchgegangen, in der das Kollektiv, sagen wir mal, zu einem kollektiven Trauma geführt hat. Und dann rede ich natürlich über die politischen Erfahrungen der 60er und 70er, teilweise auch noch der 80er Jahre. Ich glaube, dass die Psychodramen und Intensitäten von damals nicht unbedingt wieder zurückkehren werden. Die Zusammenarbeit heute, das, was wir freie Kooperation oder Free Cooperation nennen, findet über völlig andere Schienen statt. Wir verfügen auch technisch und technologisch über ganz andere Möglichkeiten. Das heisst, der ganze psychische Identifikationszwang und die völlige Übergabe des Einzelnen an das Kollektiv wird so nicht mehr erfahren. Und das ist eine gute Sache. Da sollten wir weiter forschen, weiter spüren und weiter darüber reflektieren, wie wir solche sozialen Erfahrungen machen können, und solche freien Kooperationen weiter vorantreiben – ohne dass man seine persönliche Konturen komplett abliefert, in Frage stellt oder zerstört.

JS: Könnte es eine Funktion der Medientechnologie geben, die wir noch gar nicht richtig begreifen können? Die etwa in die Richtung geht, dass sie eine Metapher sein könnte, die uns ganz direkt auf die ungelöste Frage der Kommunikation aufmerksam machen will, und wie ein tägliches Mahnmal funktioniert, um uns zu zeigen, dass unsere Kommunikationsformen untereinander noch auf einem ganz niedrigen Level in der Entwicklungsgeschichte ablaufen?

GL: Auf alle Fälle. Aber es kann auch sein, dass viele Aspekte, die wir jetzt für wichtig halten, relativ bald in den Hintergrund treten. Es wäre möglich, dass dieser Echtzeitzwang, immer präsent zu sein, reagieren zu müssen, ununterbrochen sichtbar sein zu müssen, relativ bald wieder verschwindet. Und auch wenn etwas technisch möglich ist, heisst das ja noch lange nicht, dass es auch wünschenswert ist – und auch vom Markt auf Dauer akzeptiert wird. Man kann natürlich über den Einzelnen und sein Unbehagen reden, aber man kann noch viel positiver sein und sagen: viele sind auf Dauer daran überhaupt nicht interessiert, trotzdem es angeboten wird und technisch möglich ist. Wenn eine ausreichende Anzahl Menschen es uninteressant finden, erledigt es sich von selbst.

Das ist nicht nur meine Hoffnung, ich glaube, es gibt auch sehr starke Indizien dafür, dass diese knallharte technologische Notwendigkeit eigentlich nicht existiert. In diesem Zusammenhang ist es zum Beispiel auch interessant, nochmal auf den kalten Krieg zurück zu sehen und die damalige Entwicklung von nuklearen Waffen, das nukleare Wettrüsten. Diese Entwicklung war von der Technologie vorangetrieben worden. Aber die Waffen-arsenale sind inzwischen in den Hintergrund getreten. Ich sage nicht, dass die Waffen verschwunden sind, aber sie beherrschen unser Bewusstsein nicht mehr so wie vielleicht in den 50er Jahren, oder noch in den 80ern als letztem Aufschrei. Das Gute ist, daß dies bedeutet, es ist nicht mehr so einfach, und als Geiseln zu nehmen.

JS: Wenn Sie an die Zukunft denken, wo liegt Ihre größte Neugier  – für die eigene Arbeit und ganz allgemein?

GL: Worauf ich schon sehr neugierig bin, ist, ob dieses Rat Race, diese Beschleunigungstendenzen und -notwendigkeiten, nicht eine Kehrtwende erfahren. Und auch die Frage – sie bezieht sich auf meine eigene Arbeit – ob die Kritik, ob die Reflektion nicht wieder an Bedeutung gewinnen könnten. Im Moment geht es mehr in die andere Richtung: es gibt keine Zeit mehr, nachzudenken, Informationen oder Gedanken angemessen zu verarbeiten. Die Verlangsamung der Zeit jedenfalls halte ich für ein sehr plausibles Zukunftsszenario.

© 2010  Geert Lovink, Juliane Stiegele