Interview fr die Badische Zeitung

"De digitale Stad" ist ein Many-to-Many-Medium: Interview mit Geert Lovink, Botschafter des Amsterdamer Bürgernetzes über freien Meinungsaustausch

“Wir wollen unzensiert politisch diskutieren können”

Das Gespräch führten Irene Herzog und Mehdi Dastani

Geert Lovink ist einer der Errichter und heute der Botschafter der “digitalen Stadt Amsterdam”. In den achtziger Jahren war er in der Hausbesetzerszene aktiv, studierte Politologie und Kommunikationswissenschaften, errichtete mit Freunden Piratensender und entwickelte schließlich 1989 auf einer internationalen Computerhackerparte Collective Galactic Party in der Nähe von Amsterdam mit anderen Hackern die Idee, den Zugang zu dem neuen Medium “Internet” einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Der Regierung und der Wirtschaft sollte zuvorgekommen werden, neue Formen der politischen und gesellschaftlichen Diskussion sollten ohne Repressalien entstehen können.

Herr Lovink, wie kamen Sie auf das Konzept der “digitalen Stadt”?

Lovink: Wir waren beeindruckt von dem amerikanischen Modell des “information super highway”. Zwar ist in den Staaten Internet kommerziell ausgerichtet, aber trotzdem wird es von einem großen Publikum benutzt und ständig bereichert mit neuen Daten über die verschiedensten Themen. So kamen wir auf den Gedanken, selbst so etwas aufzubauen, und nicht auf die Regierung oder sonst jemanden zu warten. Wir wollten den Zugang für jeden möglich machen und nicht durch Reglementierungen von oben die Kreativität beschneiden. Computernetzwerke müssen einen Teil der öffentlichen Lebens ausmachen, das ist unsere Philosophie. Internet sollte mehr sein als vor allem ein ökonomischer Faktor, wie es zum Beispiel in Deutschland er Fall ist.

Was ist die digitale Stadt denn genau im Vergleich zum Internet?

Lovink: Die digitale Stadt ist eine metaphorische Stadt, wo Menschen sich an verschiedenen Plätzen treffen können, wie zum Beispiel in virtuellen Cafés oder Metros. Jeder, der einen Computer mit Modem zu Hause stehen hat, kann sich anmelden. Alle Bewohner der digitalen Stadt bekommen eine Mailbox und einen Zugangscode. Außerdem ist es möglich, eine Homepage zu bekommen. Da dafür allerdings nicht allzuviel Speicherraum zur Verfügung steht, muß der Besucher warten, bis ein anderer den Raum verläßt, und diesen dann besetzen.

Ein großer Unterschied zum Internet ist der lokale Charakter der digitalen Stadt. Im Internet kann der Besucher Homepages, die von irgend jemandem auf der Welt gemacht wurden, lesen, während sich der Besucher der digitalen Stadt in einem abgegrenzten Gebiet befindet, das eine metaphorische Beziehung zu Amsterdam hat. Die digitale Stadt besteht aus verschiedenen Plätzen. Der Besucher kann Informationen finden über die unterschiedlichsten Themen wie zum Beispiel Umwelt, Bücher oder lokale Politik.

Ist der lokale Charakter nicht auch eine Beschränkung?

Lovink: Wir finden die Beziehung zur Stadt Amsterdam und zwischen den Menschen gerade sehr wichtig. Die Leute haben das Bedürfnis nach einem Ausgangspunkt. Die elektronische Begegnung führt übrigens oft zu einer reellen Begegnung. Wir betrachten die lokale Verbundenheit als eine Art Sprungbrett. Denn die digitale Stadt ist natürlich auch Teil eines globalen Netzes, dem Internet.

Kommen die meisten Besucher der digitalen Stadt aus Amsterdam?

Lovink: Nein. Wir haben insgesamt 50.000 permanente Besucher. Ungefähr 20 Prozent kommen aus Amsterdam, ein großer Teil aus den Niederlanden, aber auch aus dem Ausland wie zum Beispiel Deutschland. Die Anzahl nimmt immer noch zu. Dast hat vor allem auch mit Repressalien und Kontrollen in anderen Ländern zu tun, wo das Internet in Händen der Regierung und der Wirtschaft liegt.

In der digitalen Stadt gibt es keine Begrenzungen. So konnte man vor kurzem zum Beispiel ein geheimes Dokument von Scientology in der digitalen Stadt einsehen, und auch die in Deutschland verbotene Zeitschrift “Radikal” erscheint hier.

Die Anziehungskraft der digitalen Stadt für die Menschen, die sich darin bewegen, besteht darin, daß es sich hierbei nicht um ein leeres Konzept handelt, sondern um ein lebendiges System. Hier wird nicht nur einfach etwas verkauft, sondern die Leute können gratis Informationen austauschen. Es ist mehr als nur Homepages durchklicken.

Wie finanziert sich die digitale Stadt?

Lovink: Die digitale Stadt ist kein Projekt der Sadt Amsterdam. Die Gemeinde Amsterdam hat zwar am Anfang etwas mitfinanziert, aber mittlerweile ist die digitale Stadt ein eigener Betrieb geworden mit 25 festen Mitarbeitern und einem kommerziellen Zweig. Hier werden bestimmte Dienste im Internet zu billigen Tarifen verkauft.

Was sind Ihre Zukunftspläne?

Lovink: Wir finden, es reicht nicht aus, das System am Laufen zu halten und es zu einem Monument werden zu lassen. Momentan beschäftigen wir uns mit neuen technischen Entwicklungen, wie zum Beispiel dreidimensionalen Bildern und “virtual reality”. Um die Überlebenschancen der digitalen Stadt zu sichern, brauchen wir immer mehr neue Mitglieder. In meiner Funktion als Botschafter der digitalen Stadt versuche ich, unser Projekt auch im Ausland bekannt zu machen. Wir wollen, daß auch in anderen Ländern digitale Städte entstehen.