texte: Wenn ich das richtig im historischen Blick habe, ist “nettime” als Mailingliste und Forum parallel zur Idee der Netzkritik entstanden.
GL: Die Agentur Bilwet hatte mit dem “Medien-Archiv” die Frage ‘Was ist Datenkritik’ aufgeworfen, als hier in Holland das Netz richtig anfing. Dann bin ich Pit Schultz (damals von Botschaft e.V.) begegnet, der ähnliche Interessen hatte. Unsere erste Zusammenarbeit bestand darin, im Dezember 1994 ein Gespraech mit Kevin Kelly für das Belgische Fernsehen zu führen. Dabei stellte sich heraus, daß es sehr wohl Möglichkeiten einer Wired-Kritik gab, trotz des enormen Vorsprungs, den Wired hatte. Von dieser Anfangszeit ist für mich die Überzeugung geblieben, daß ‘Kritik’ keine Metaposition ist, weil sie sich selbst innerhalb der Medien aufhält. Kritik gehört zur Einführungsphase neuer Technologien und bleibt in gewissem Sinn immer Begleitmusik. Sie eröffnet keine neuen Möglichkeitsraeume. Netzkritik könnte sich vor allem an der Film- und Fernsehkritik messen. Ich lese es immer gerne, wenn ein Film brilliant auseinandergenommen wird. Solche Analysen brauchen wir auch über Software und Websites.
texte: Wenn Kritik keine Möglichkeitsräume eröffnet, dann bedeutet das für das Projekt der Netzkritik, daß es lediglich auf die nötigen Modifikationen des Systems hinweist, in dem es situiert ist. Bewertet Netzkritik die Produkte der Informationsindustrien im Sinne einer Verbraucherzentrale?
GL: Das ist auf eine gewisse Weise richtig: Netzkritik wird nicht die Revolution einleiten, und ich verstehe diese großen Erwartungen auch nicht. Die werden nur in die Welt gesetzt, um wenige Augenblicken später sagen zu können: ‘Schau an, es ist mal wieder in die Hose gegangen.’ Verbraucherzentralen können im übrigen tatsächlich Macht ausüben, siehe Ralph Nader. Er ist der einzige Gegenspieler von Bill Gates, der ernst genommen wird.
texte: Wie wuerdest du im Rückblick die Idee der Netzkritik definieren, und was hat sich inzwischen geändert?
GL: Angefangen hat es mit dem produktiven Unbehagen an dieser völlig unkritischen Cyberkultur und ihrer ‘kalifornischen Ideologie’. Ob das Projekt Netzkritik sich erneuern kann, wird sich zeigen. Wir sind im Moment gerade in der ökonomistischen Phase, so wie die Filmkritik Anfang der Siebziger Jahre: Es geht darum, Positionen gegen Copyright und Zensur, gegen Microsoft und die Telekoms zu entwickeln. Das ist die ‘politische Ökonomie der neuen Medien’. Langweilig, aber äusserst notwendig. Eine Neubestimmung des Projekts hängt unter anderem von strategischen Überlegungen ab: Sollten solche Listen und Foren klein bleiben und wie Viren weiterarbeiten, oder eine Stufe weiter gehen? Etwa ambitionierter an die globale Wirtschaftskrise herangehen, die Netze teilweise auch verlassen, um Partner außerhalb zu suchen? Oder ist die Macht, wenn es darauf ankommt, heutzutage wirklich im Virtuellen zu orten? texte: Kannst du die Idee des ‘Viralen’ näher erklären? Es geht um den Aufbau ‘nachhaltiger Strukturen’, die sowohl flexibel auf technologische und gesellschaftliche Entwicklungen eingehen können als auch den grausamen Zeitgeist der Marktlogik überstehen können. Das Konzept der viralen Informationsverbreitung beruht auf Selbstvertrauen und Ausdauer. Temporäre Zusammenarbeit mit der Gegenseite ist durchaus möglich, wenn es auch ‘eigene’ Strukturen gibt. Sonst ist man/frau bedingungslos den Institutionen ausgeliefert. Das Virenmodell glaubt an die Möglichkeit, die ideologischen Strukturen auf lange Sicht zu frustrieren, zu schwächen. Sowohl mit positiven Beispielen als auch mit negativer Energie.
texte: Du stellst offensichtlich die Frage nach einer Organisation, die über eine Mailingliste hinausgeht. Kann Politik im Sinne der Formulierung bestimmter Interessen und Forderungen damit die Vorstellung vom taktischen Medium ablösen?
GL: Alles, was in den 70er/80er Jahren über das Organisationselend vermutet wurde, hat sich bewahrheitet. Sinkende Mitgliederzahlen bei Parteien und Gewerkschaften, auch weniger soziale Bewegungen. Die Reste der außerinstitutionellen Opposition sind marginalisiert, haben sich auch teils selber zurückgezogen und tragen reaktionäre und dogmatische Züge. Die Energien haben sich in Richtung Medien verschoben und dort finden die (noch vorhandenen) Auseinandersetzungen statt: Kultur hat Politik ersetzt und absorbiert. Kleine Gruppen und Individuen versuchen aber unter diesen neuen virtuellen Bedingungen, politische Arbeit fortzusetzen. Innerhalb und ausserhalb der Netze, ob es nun Video ist, Radio, in Clubs, mit Kampagnen, oder einfach die Fortsetzung dessen, was immer schon gemacht wurde (Antifa usw.) – unter neuen, mikropolitischen Bedingungen. Nur zum Teil geht es dabei um die Medienfrage selbst und um die ‘politische Oekonomie der neuen Medien’: Wem die (Tele-)produktionsmittel gehoeren, wer die Protokolle entwickelt und die Entscheidungen trifft. Ich bin davon ueberzeugt, dass nach 1945 die Medienfrage im strategischen Sinne die soziale Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts abgelöst hat. texte: Kannst du präzisieren, was mit den ‘dogmatischen und reaktionären Zügen’ innerhalb der sozialen Bewegungen gemeint ist? Es geht dabei um das ganze Repertoire der alten Ausgrenzungsverfahren gegenüber Künstlern, die immer den Hang zum Unpolitischen haben, gegen Medienleute, die immer die Tendenz haben, sich in den Simulakren zu verlieren, gegen Andersdenkende, die nicht PC genug sind, gegen Reformisten, die sowieso an allem schuld sind, gegen Chaoten, die die politische Linie nicht beibehalten, nur saufen und Bambule machen, Ausländer mit irgendwelchen abweichenden Mentalitäten… Das alles deutet nur darauf hin, daß sich nichts richtig bewegt. Aber das kann sich zum Glück immer wieder leicht ändern.
texte: Funktionieren Bewegungen im Netz wie hypermoderne Unternehmen mit flexiblen Aktivisten, die zuhause am Laptop sitzen? Elektronische Einsamkeit? Anders gefragt: Ist Geert Lovink ein Aktivist ohne Bewegung?
GL: In einem gewissen Sinne ja. Netze sind in gewissem Sinne Infrastrukturen ohne Ereignis. Nettime als lose Debattiergemeinschaft sollten wir nicht überschätzen. Es geht dabei maximal um den Aufbau von kritischem Diskurs mit Querverbindungen zwischen Individuen, Gruppen und Praktiken, die lange voneinander getrennt waren. Noch fehlt es im Netz am konstituierenden politischen Moment, dem elektronischen Ausnahmefall (wie es etwa der Golfkrieg war). Einige aber praktizieren schon die ‘electronic disturbance’, wie etwa Floodnet. Dort versucht man, soziale Architekturen herzustellen, um über diese Einsamkeit hinauszugehen. Bei Floodnet geht es darum, aus Solidarität mit den Zapatistas gemeinsam die Server der mexikanischen Regierung, Banken und US-Einrichtungen mit massiven Anfragen lahmzulegen. Diese Aktion hat bisher vor allem Auswirkungen auf der symbolischen Ebene gehabt. In Zeiten einer virtuellen arbeitenden Klasse (die an den Maschinen festgenagelt ist) wird es vielleicht nur logisch sein, daß sich auch im Cyberspace Leute zusammenrotten.
texte: Das würde bedeuten, daß in den Netzen nichts passiert, was man unter Politik subsumieren könnte, wenn nicht gerade der von dir angeführte “Ausnahmefall” eintritt oder symbolische Boycottaktionen organisiert werden. Es gibt genügend Vorgänge im Netz, die man unter einem politischen Gesichtspunkt betrachten und kritisieren könnte: Etwa das zunehmende Zusammenfallen von Informationsmanagement, das den NutzerInnen angeblich helfen soll, sich zurechtzufinden, und den neuen Überwachungstechniken, die über Nutzerprofile den gläsernen Konsumenten schaffen und über kurz oder lang Systeme der sozialen Kontrolle installieren werden, die sich der naive User heute kaum vorstellen kann. Ein anderes Feld wäre das Eindringen der Meinungsmonopole der Medienindustrien ins Netz.
GL: Das ist der übliche Schock der Erkenntnis. Was dabei am Ende rauskommt, steht in den Sternen. Paul Virilio hat vor kurzem in einem Interview den totalen, integralen Unfall vorhergesagt, wie er sich im Fall des Jahr 2000 Bugs andeutet. Dieser Typus Unfall ist nicht länger ortsgebunden, sondern manifestiert sich weltweit, weil er in den Systemen selbst angelegt ist. Virilio wehrt sich gegen Apokalysmusvorwurf, weil der Mut, über diese Tendenzen zu sprechen, einen neuen Optimismus erzeugt. Das ist negatives Denken, an dem ich mich orientiere und das ich zu praktizieren versuche.
texte: Ist die Forderung nach Access for All immernoch aktuell oder eher in den Hintergrund getreten?
GL: Rebecca Eisenberg hat eine Kritik des Starr-Reports formuliert und nachgewiesen, wie wenig Menschen eigentlich in den USA Zugang zum Internet haben, also den Bericht nicht im Netz lesen konnten, als der Bericht veröffentlicht wurde. Beim Recht auf Zugang, Bandbreite und sinnvolle Inhalte Konzessionen zu machen, halte ich für politisch fatal. Man mag behaupten, daß eine solche Sichtweise modernistisch und aufklärerisch ist. Für mich ist das tatsächlich mit dem Kampf um das allgemeine Recht auf Bildung vergleichbar. Gerade im HighTech-Breitbandbereich gilt es jetzt, weiterhin Zugang einzufordern und dies vor allem selbst zu praktizieren. Das heißt konkret: RealAudio und Video fuer alle, nicht nur fuer die grossen Contentfirmen. Es werden massenhaft Interfaces und Softwarearchitekturen hergestellt und in dieser Aufbauphase ist es einfach lächerlich, immer wieder zu behaupten: ‘Ach, das gab es schon mal, das ist doch längst dekonstruiert.’
texte: Wenn man einen Blick auf die emanzipatorischen Medienlabors der 70er wirft und auf ihre Überbleibsel – wie etwa die Offenen Kanäle, könnte man durchaus daran zweifeln, ob der Zugang für alle auf einer rein technischen Ebene tatsächlich die wichtigste Forderung der Stunde sein kann. Und muß man nicht die Frage stellen, ob Access for All unter den gegebenen Bedingungen letztendlich nichts anderes darstellt als die Eröffnung neuer Märkte?
GL: Selbstverständlich haben xs4all und die Digitale Stadt den Weg für den Markt bereitet (die damit aber auch selbst zu Mitspielern geworden sind – und nicht zu Opfern). Die Verblödung, die mit der Öffnung und Demokratisierung einhergeht, werde ich immer verteidigen. Es gibt schon genügend virtuelle Klassen und ‘Cyberlords’, die die Macht innehaben. Deren Abgrenzungsprotokolle gilt es zu bekämpfen. Daneben gibt es die kulturellen Eliten, die ohne jegliche Technologie auskommen können, weil sie ohnehin diskursive Macht haben. Ein Rückfall in die Logik Highbrow-Lowbrow in den Netzen wäre jetzt fatal, obwohl genau das jetzt offensichtlich passiert: Zugang für alle und Wissen für wenige. texte: Wenn du von deiner Position als Netzkritiker aus einen Blick auf Medien/Netzkunst wirfst: Kann diese Ansätze zu liefern jenseits des Vorführens der jeweils neuesten Informationstechnologien und ihrer Effekte auf der einen oder des bloßen ‘Störens des Betriebs’ auf der anderen Seite?
GL: Über das Stören des Betriebes mache ich mir in diesem Rahmen keine großen Gedanken. Ich arbeite eher auf lange Sicht hin und erhoffe dabei virenartige Auswirkungen. Mich interessiert zur Zeit der Clash/Dialog zwischen der Konzeptkunstmafia und der Medienkunstmafia. Immer mehr Medien gelangen in die Museen, und immer mehr Künstler beginnen, mit dem Computer zu arbeiten – trotz wiederholter Warnungen aus Köln, Wien und New York. Verrat an der PC Kunst! Beide Richtungen haben eigentlich ausgedient und platzen vor arroganter Selbstrefentialität. Wird es einen Bandenkrieg geben? Oder eben interessante Koalitionen? Wer weiss. Aber es tut sich was zwischen den Polen. Zehn Jahre danach. Dies hängt natuerlich alles mit der Krise der Medienkunst selbst zusammen. Die Video- und Computerinstallationen sind zur Zeit so schrecklich wie noch nie.
texte: Kannst du diesen Gegensatz zwischen Konzeptkunst und Medienkunst genauer definieren?
GL: Man kann einwenden: ‘Diesen Gegensatz von Medien- und Konzeptkunst kannst du nicht aufmachen!’ Es gibt tatsächlich Dutzende von Querverbindungen: Das alles war noch kein Problem in der Zeit von Dada, oder für die Situationisten. Erst mit Fluxus hat diese Spaltung begonnen. Danach hat eine gewisse Gruppe nur noch entlang der Technologie weitergearbeitet und daraus entstand die Sparte Video/Medien und Elektronische Kunst, so wie ISEA, Ars Electronica und ZKM sie jetzt präsentieren. Und jetzt kämpfen die jungen Kuratoren aus dem “contemporary art” Lager damit, daß sie nichts von Computern und Netzen verstehen und rätseln, wieso diese Kluft ueberhaupt existiert.
texte: Neben dem Projekt der Netzkritik schreibst du Bücher mit der Agentur Bilwet, warst an der Organisation diverser Medienfestivals beteiligt und hast vor kurzem im Rahmen eines Meetings mit EU-Vertretern verhandelt. Dabei ging es um Zuschüsse für unabhängige Netzprojekte. Du füllst multiple Funktionen aus, und wenn man Festivals wie die Ars Electronica mitorganisiert, kann man sich nicht mehr uneingeschränkt als Kritiker verstehen.
GL: Ein Projekt ist eben nicht eine Partei, der Staat, die Familie oder das Volk. Es geht da um die Kunst des Erscheinens und des Verschwindens. Das ist manchmal schwierig zu akzeptieren, wenn man viel Zeit und Energie in der Aufbau einer Organisation und eines Events gesteckt hat. In meinem Fall gibt es erstaunliche Kontinuitäten, trotz vieler Brüche, Gruppen, Publikationen und Vernetzungen. Ich selber habe keine Professur oder festen Job und versuche über die Runden zu kommen. Es passiert im Augenblick so viel, wie gerade in Serbien, im Kosovo oder in Albanien: Ob ich jetzt dieses Jahr bei Ars Electronica mitgemacht habe oder nicht, besagt doch nichts über all die Piratenradios, Medienlabore und Kampagnen, die zur Zeit laufen.