BJ: Die Infrastruktur-Betreiber, neue und alte Telcos, bewegen sich immer mehr in Richtung Content, gleichzeitig werden Content-Provider und Software-Hersteller immer mehr auch in Richtung Infrastruktur/Hardware aktiv. Welchen Einfluß hat das auf die Entwicklung des Internet? GL: Fast alles gerät zur Zeit ins Schwanken. Die ISPs waren bisher die einzigen, die richtig Geld gemacht haben. Jetzt aber werden sie von zwei Seiten angegriffen: Der Trend zum freien Netzzugang (wie Freeware in Großbritannien) nimmt ihnen zahlende Abonnenten weg; auf der anderen Seite können Breitband-Provider (z.B. @home) auf der Basis neuer Technologien wie Kabel oder ADSL zu Konkurrenten werden. Die Preisgestaltung in dieser Branche ist lustig und sehr chaotisch. Die Preise für Kabel-Zugang in Europa liegen derzeit bei 40$, aber das wird noch runtergehen. Das heißt, es gibt derzeit drei Kategorien: umsonst, 5-15$ für die “old school ISPs” und die Kabel- und ADSL-Provider bei 30-40$.
BJ: In Palo Alto kostet ADSL unbegrenzt ca. 30$ im Monat. Bei ca. 2 GBit.
GL: Davon bemerken Benutzer in Deutschland bisher nicht viel, aber irgendwann wird die Dominanz von T-Online gebrochen sein. Billige Standleitungen werden dem deutschen Netz den entscheidenen Schub geben.
BJ: Sind nicht eine weitere Gefahr für die alten ISPs auch die großen Player wie Microsoft oder Bertelsmann, die sich einkaufen und ihre eigene Version von Online-Content durchsetzen wollen?
GL: Nun, das hängt von der Abschätzung bezüglich des Content ab. Da gibt es zwei Schulen: Old-school-ISPs und -Telcos wollen mit dem gar nichts zu tun haben. Das ist die alte UNIX-Engineering-Clique, die behauptet, sie gebe ja nur das Signal weiter, sonst nichts. Völlig entgegengesetzt ist die Service- und Medien-Struktur, die bis auf die BBS-Systeme, Compuserve und Prodigy zurückgeht. Die haben von Anfang an Inhalte angeboten. Es sind aber die Angebote, die die vernetzten Massen nteressieren, nicht die Programmiersprachen, unter denen das ganze läuft. Die Frage “NT oder Linux” ist da belanglos. Hauptsache, die Inhalte stimmen, und die Abrechnungs- und Kontrollsysteme funktionieren. Ich bin der Meinung, daß das Internet nur ein Medium sein wird, und daß der Hackertraum der Content-Neutralität längst gelaufen ist. Das Netz wird eine Multimedia-Plattform sein, und sich sowohl den Print-Radio-Fernseh-Medien als auch den Popmusikbranchen annähern.
BJ: Sind im Internet die “großen” nationalen Player auf Dauer nicht sowieso unwichtig gegenüber den großen internationalen Playern?
GL: Nein, so einfach ist das nicht. Telefonica zum Beispiel wird auch in Zukunft ein wichtiger Player in Spanien und Lateinamerika sein. Wer in Japan Business macht, hat mit NTT zu tun. Die Namen und Koalitionen ändern sich, wie in der Luftfahrtindustrie. Es gibt ein ungeheures Übernahmefieber, eine Sucht nach Koalitionen, aber die Basis liegt in der Region, ist verwurzelt in der Infrastruktur, den Kabeln im Boden. Das wissen alle Telcos, auch die neuen wie GlobalCrossing, die versuchen, gegen die Übermacht von MCI Worldcom anzugehen.
BJ: Was hat das für Auswirkungen auf die Offenheit der Netze? Werden die Leute immer weniger ins “wilde” Internet gehen und den Content bei ihrem geschützten ISP abholen? Wird das Internet also ein Inselstaat, bei dem nur Piraten noch auf offener See segeln?
GL: Ja, der öffentliche Teil wird vergleichsweise immer kleiner und langsamer. Das hat mit der Peering Policy der Backbones zu tun. Das Usenet beispielsweise gehört ja niemandem, warum sollen die großen Telcos dafür noch zahlen? Allgemein gibt es immer mehr geschlossene Intranets. Das Netz entwickelt sich in der Tat in Richtung eines Archipels, wobei die Shopping-Insel mit dem wachsenden Business-to-Business-Anteil wohl die größte sein wird. Wild ist da vielleicht noch der Kult um die Start-ups, verbunden mit dem Börsenfieber, das jetzt wohl mit dem Fall “Freeware” auch in Europa angekommen ist. Warten wir also gelassen den einen oder anderen Crash ab. Die erste Netzrezession aber wird die Konzentration in wenige Hände nur noch vorantreiben. Vor allem die kleinen Firmen, die heute wegen ihrer angeblichen Innovationskraft bejubelt werden, werden eingehen. Bei dieser Entwicklung ist zu befürchten, daß Content über Werbung finanziert wird – wie beim Fernsehen. Damit sind wir wieder beim Finanzierungsmodell der alten Medien.
BJ: Das Internet ist ja nicht unbedingt ein Massenmedium, sondern hat das Potential, ein hochspezialisiertes und -individualisiertes Medium mit völlig anderer Marketingstrategie zu sein.
GL: Nicht für alle Nutzer, aber für die große Mehrheit ist das so. Die Hälfte der Internet-Nutzer ist erst im letzten Jahr dazukommmen. Was finden die vor? Die bleiben irgendwo hängen – am ehesten innerhalb von AOL. Die Entwicklung in Richtung WebTV plus E-Commerce wird also stärker. Das wiederum heißt: weniger Anbieter, die gleiche Infos und Services anbieten, und mehr Web-Konsumenten. Die eigene Homepage und generell die Kommunikationsaspekte des Internet werden gegenüber den Konsumaspekten marginalisiert, und verschwinden als haardünner Rückkanal: Immer mehr e-mails teilen sich immer weniger Bandbreite.
BJ: Ist das Internet das allumfassende Info-Paradies oder eine Medien-Parallelwelt, die uns Informiertheit und Kompetenz vorgaukelt, indem sie ihre eigene Komplexität schafft, aber in Wirklichkeit extrem steuerbar und manipulativ einsetzbar ist?
GL: Das Internet ist so dumm wie ihre – netspezifischen – Redakteure, und davon gibt es ja bekanntlich wenige. Der Einfluß auf Firmen in Form von Gerüchten und Gegeninformationen ist jetzt noch groß, aber das liegt nur daran, daß die großen Unternehmen ihre PR-Strategien immer noch nicht angepaßt haben. Deren ‘perception management’ ist immer noch auf die alten Medien ausgerichtet. Diese Wissenskluft nutzen die Netzaktivisten derzeit noch aus, aber dieser Vorsprung wird bald verschwinden. Dann wird der Infowar einen Schritt näherkommen. Jetzt ist das ganze noch ziemlich harmlos, wie auch während der Kosovo-Krise klar wurde. Die Pentagon-Site für ein paar Minuten zu hacken, das bedeutet ja nicht viel. Da könnten wir uns noch viel Neues einfallen lassen und erproben.
BJ: Wird denn der Internet-Content auf Dauer so ungeordnet bleiben, wenn die Internet-Infrastruktur sich weiterhin so stark ordnet und konzentriert? Schlägt nicht die Form und die Struktur eines solchen Mediums auf Dauer auf den Inhalt durch?
GL: Natürlich. Genauso wie es heute die abgestorbenen gopher-Bäume gibt, wird es demnächst auch HTML-Wüsten geben – gutgemeinte Anfänge von Konzepten, die sich aus Geldmangel nicht weiter durchsetzen. Das ist aber gar nicht so schlimm. Diese traurige Einschätzung sollte niemanden davon abhalten, eine Homepage zu öffnen oder gar eine Computerfirma zu gründen. Besuch doch mal die Gutenbergarchive, davon gibt es ja viele. Davon sagt auch niemand, ach, das war alles vergebens, was die Leute damals, im 19. oder 20. Jahrhundert, zu Papier gebracht haben. Diese Vision ist nur deshalb so schrecklich, weil wir glauben, die digitalen Speichermedien würden alles, was wir schreiben, für die Ewigkeit aufbewahren – nur, weil wir das Speicherproblem für gelöst halten. Das ist aber noch nicht bewiesen. Digitale Informationen könnten sehr wohl in 10 oder 20 Jahren unlesbar geworden sein. Sie bleiben nur präsent, wenn wir die ausgewählten Daten immer wieder erneuern, ansehen, manipulieren.
BJ: Können räumliche und soziale Metaphern wie die Digitale Stadt Komplexität in der Benutzung und der Wahrnehmung des Internet reduzieren?
GL: Die digitale Stadt Amsterdam (dds) hat ihre Arbeit getan, die Leute ins Netz einzuführen. Das Projekt verwandelt sich jetzt in einen Experimentierplatz für Webcasting, einen Servergarten für Kultur aller Art und Webspace für alle. Sie ist damit aber noch lange nicht Geschichte. Die Konflikte um geocities.com sollten allen Nutzern eine Warnung sein. Wenn dein Server verkauft wird, geht auch deine Arbeit mit, inklusive Copyright. Das ist eine reale Gefahr. Die Freenets wie dds wurden ja gerade zu dem Zweck gegründet, gegen die Kontrolle des Internet-Content durch Unternehmen und Staat anzugehen. Raummetaphern dienten dabei nur als Einstieg. Jetzt gibt es andere Navigationsmittel, wie servergebundene Suchmaschinen, eigene Browser, Databases, usw. Der Demokratisierungkampf aber geht weiter, auf vielen Ebenen. Der Raum ist dabei zwar ein wichtiger Anhaltspunkt, aber nicht meine Religion.
BJ: “Unternehmen, deren interne Prozesse langsamer sind als die Prozesse des Marktes, sind zum Untergang verurteilt”. Müssen Organisationen externe Zeitlichkeiten in sich abbilden, um zu überleben, oder müssen sie sich im Gegenteil adiabatisch von diesen Prozessen entfernen?
GL: Das hört sich nach Kevin Kelly an. Adopt or die. Weder noch, würde ich sagen. Wer so reich ist, daß er sich eine solche Entfernung leisten kann, dem würde ich unbedingt empfehlen, offline zu gehen. Vernetzung wird allmählich identisch mit der Arbeitswelt. Das Bild des PC im Hobbyzimmer, wo am Abend gesurft wird, ist von den großen, bewachten Intranets der Firmen, Schulen und Krankenhäuser abgelöst worden. In Deutschland hat das alles ein wenig gedauert, und es gibt immer noch komische Situationen des Nicht-Vernetztseins, vor allem im Kunst- und Kulturbereich. Oder sogar an Universitäten, wo das Internet viel zu lange in den Händen der Informatiker war. Bald wird es das aber in jedem Klassenzimmer geben, und von allen Disziplinen benutzt werden. Die Linuxnetze der Bürger sind ja auch schwer im Kommen. Niemand braucht sich dabei große Sorgen zu machen über Wettbewerbsprobleme. Deutschland ist das drittreichste Land, hypermodern und hochtechnologisch, bis in den Knochen. Es wird also eine typisch deutsche Netzkultur geben, die sich nicht unbedingt an den USA messen muß, so wie in Japan.
BJ: Welchen Einfluß hat das Internet auf gesellschaftliche, produktbezogene und strukturelle Innovationen? Wird die Entwicklung in Richtung eines monokapitalistischen System Innovationen hemmen, oder wird eine Entwicklung zu pluralistischen, offenen Netzwerken und Ökonomien stattfinden?
GL: Nein. Die Entwicklung wird alles andere als offen und pluralistisch sein. Das Netz geht haargenau den gleichen Weg wie Print in den Siebzigern und Fernsehen in den Achtzigern: Kahlschlag, Fusionen, Werbungsmüll, Trash – also viel Vergnügen! Am Arbeitsplatz passiert die gleiche Geschichte. Mehr Produktivitätsdruck, mehr Kontrolle am Arbeitsplatz. Die e-mails werden gelesen, der Tastaturanschlag gemessen, Bildschirminhalte kontrolliert, es wird Filter geben, Verbote, Tricks, geheime Spiele. It´s all in the ball game. Die Kommunikationslust, dieser Antrieb, etwas mit Freunden, Geliebten, Fremden zu teilen, wächst aber mit, und sucht nach klugen Aus- und Umwegen. Ja, es wird diesen Produktionsboom geben, aber auch gigantische Krisen. Netze können diese Krisen nicht vorausahnen oder gar eliminieren.
BJ: Gibt es Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken? Ein großer Unterschied zum Fernsehen ist ja die theoretisch unbegrenzte Bandbreite. Im TV wird ja Qualität der Quantität geopfert, da die guten Sendeplätze und Kanäle knapp sind.
GL: Was zählt, sind die taktischen Eingriffe, die beispielsweise im Satellitenbereich abzusehen sind. Vor kurzem war ein Kanal auf Astra noch unbezahlbar. Auch heute kann er noch viele zehntausend DM im Jahr kosten. Für Medienfirmen sind das Peanuts. Wie aber erobern wir digitale Breitbandkänale für Netzradio-Initiativen, um beispielsweise Clubs so zu vernetzen, daß Sound und vielleicht sogar Bilder ausgetauscht werden können? Wie demokratisieren wir die Breitbandnetze? Darum wird es gehen – wenn die Leute überhaupt dazu bereit sind, sich zu organisieren, nicht mit der üblichen Vereinsmeierei, sondern als Bewegung, die geprägt ist durch lose, technisch orientierte Koalitionen.