Interview mit Geert Lovink

Original auf NL/ENG in V2

Orig. In: Arjen Mulder en Maaike Post, Boek voor de Elektronische Kunst, De Balie/V2, 2000.

Arjen Mulder/Maaike Post: Wie und wann bist Du mit Computernetzwerken in Berührung gekommen?

Geert Lovink: Das war im August 1989 auf der Galactic Hacker Party im Paradiso, einem großen, internationalen Treffen von Computerhackern. Dort habe ich zum ersten Mal etwas vom Internet, von Bulletin Board Systems (BBS) und all den anderen Dingen, die später eine entscheidende Rolle in der Diskussion über Computernetzwerke spielen sollten, gehört. Themen wie: Wer hat Zugang zum Internet, Kryptografie, Privacy, Netzwerkarchitektur, die Philosophie dezentraler Netzwerke, und, im Rückblick auf die siebziger und achtziger Jahre, die frühe Definition des Begriffs „Hacker“, wie sie in Steven Levys Hackers auftaucht: Heroes of the Computer Revolution. Die ersten Hacker haben vor allem für den Zugang zu Netzwerken gekämpft, das war am Anfang noch illegal. Die Möglichkeit, über HTML-Seiten und Hyperlinks von einem Server zum anderen zu wechseln, die gab es noch nicht. Wenn man von einem Server zum anderen wollte, musste man sich mit einem Login und einem Passwort neu einloggen. Es war allerdings schon möglich, viel downzuloaden und zu FTPen, d. h. kopierte Dateien zwischen einem PC und einem Server auszutauschen, was damals die wichtigste Beschäftigung war. In Hackerkreisen wurde vor allem über den Austausch von Software diskutiert, nicht so sehr über den Austausch von Informationen. Das entspricht immer noch der Kittlerschen, technologisch deterministischen Definition: Internet = Austausch von Dateien. Ein Netzwerk besteht aus Computern, die miteinander kommunizieren, Menschen haben damit nichts zu tun. Deren Kommunikation, E-Mail und Chat, ist demzufolge höchstens ein Abfallprodukt des Systems. Trotzdem, wenn man die Leute fragt, was das Internet für sie bedeutet, dann nennen sie zwei Dinge: Versorgung mit Informationen und Kommunikation. Diese zwei Welten, die „Wahrheit“ der Technik und die tägliche Erfahrung der Benutzer, haben sich immer weiter voneinander entfernt und treffen sich nur noch selten.

Dennoch wurden Hacker von Anfang an als soziale Aktivisten angesehen.

Ja, aber das ist eine spezielle Sorte. Die meisten sind anarchistisch und ganz und gar nicht engagiert. Eine andere Fraktion entwickelte sich aus der alternativen Kultur der West Coast, wo die meisten Hacker herkamen, eine Kultur, die am Anfang vom Vietnam-Krieg und später von anderen alternativen Bewegungen geprägt wurde. Ende der sechziger Jahre gab es in Kalifornien eine kleine Gruppe von Leuten, die schon sehr früh auf die Idee kamen, dass Computernetzwerke beim Aufbau sozialer Netzwerke außerhalb der geschlossenen Welt der Massenmedien eine entscheidende Rolle spielen würden, um einen alternativen Informationskanal zwischen einzelnen Menschen, Gruppen und Bewegungen zu bilden. Direkt und dezentral, unter Ausschluss der vermittelnden Rolle der Medien. In Europa ist das Internet sehr lange akademisch geblieben, hier kannte man diesen alternativen Kontext nicht. Die Geschichte der Computernetzwerke in Europa ist anders verlaufen, sie begann erst Mitte der achtziger Jahre mit der Verbreitung der Bulletin Boards. Einerseits bestand das Ziel darin, den Benutzern größtmöglichen Komfort zu bieten und ihnen möglichst viele Freiheiten zu lassen, auf der anderen Seite wurde ein Teil des Systems dazu benutzt, über lokale politische Angelegenheiten und andere Dinge zu diskutieren. Bis auf den heutigen Tag existiert eine rege BBS-Kultur, in Japan und Taiwan beispielsweise, wo man dem Internet misstraut, in Deutschland ebenfalls. Die BBS-Interfaces sehen mittlerweile sehr gut aus, E-Mail ist jetzt auch immer dabei, vermutlich hat BBS noch eine große Zukunft. Das Internet ist so unsicher geworden, dass die Chancen gut stehen, dass es parallele Netzwerke geben wird.

Wie war Deine Einstellung in Bezug auf Netzwerke am Anfang? Hast Du die Bedeutung erkannt oder war das für Dich „Underground“?

Das schönste Vorurteil wird George Soros zugeschrieben: „Networking is not working.“ Die Menschen, die keine Lust haben zu arbeiten, machen eben Netzwerke. Mit ein paar Leuten an irgendwas rumbasteln, was sowieso niemanden interessiert. In dieser Zeit war der Computer, soziokulturell betrachtet, ein echtes Männer-Hobby. Am Anfang habe ich die Bulletin Boards als etwas Besonderes angesehen, neben lokalen TV-Ausstrahlungen über Kabel in Amsterdam und Piratenradiosendern wie z. B. Patapoe, an dem ich beteiligt war. Internet oder BBS hatte das Potential, viele verschiedene Plattformen – Radio, TV, Bücher, Zeitschriften – zusammen zu bringen, und daraus entstand die Motivation vieler Künstler, Aktivisten und Hacker. Es wurde auch viel herumexperimentiert und spekuliert, im Jahre 1994 gab es im Fernsehen schon einen Chat für Zuschauer. Das war ein revolutionäres Konzept und wurde mit primitivsten Mitteln realisiert, der Amiga spielte eine große Rolle dabei. Im Gegensatz zu den lokalen und nationalen BBS-Netzwerken war die internationale Komponente im Internet eine echte Bereicherung. Meine Definition des Networking besteht darin, dass man in der Lage ist, seinen eigenen, parallelen (internationalen) Kontext zu kreieren, einen Kontext, den es in der Form noch nicht gibt. Das ist eine Art Rettungsleine für viele Menschen, die dadurch motiviert werden, um ihre Arbeit im Netz weiter zu entwickeln. Der Kontext ist nicht das Ziel, aber der Anfangspunkt. Im Grunde hat ein Netzwerk kein anderes Ziel als die eigene Auflösung, aber die wird es weder morgen noch übermorgen geben. Es geht um so weit reichende, langwierige Transformationen, dass man nicht sagen kann, ob das Internet morgen wieder erledigt sein wird oder sich einfach so weiterentwickelt. Mit Sicherheit wird es in gigantischer Bewegung bleiben.
Die Ausbreitung von Bulletin Board Systems, in denen sich Künstler, Aktivisten und Hacker trafen, war eine Folge der problematischen Informationsvermittlung zwischen Leuten, die mit Medien arbeiteten; am Anfang benutzten sie Telefon, Fax und Briefe, später Computer – von low-tech-Installationen bis hin zu high-tech-Videos. Ihre Arbeit ist nicht wirklich bezahlbar, nicht physisch und nicht ortsgebunden. Ihre Ideen, Konzepte, Tapes und Installationen hatten den natürlichen Drang, auf Reisen zu gehen, das waren eben virtuelle Arbeiten. Ende der achtziger Jahre war abzusehen, dass die Technik es ermöglichen würde, die Daten auf die Reise zu schicken, das Problem bestand allerdings im Zugang und in der Kapazität. Nichts lag daher näher, als eigene Netzwerke zu bilden. Für die kulturelle Verbindung vieler dieser Netzwerke, die sich mit den neuen Medien beschäftigten, war die Wetware Convention 1991 in Amsterdam ein wichtiges Ereignis. Die kulturell orientierten Netzwerke, die letztlich nur noch auf dem Internet basieren würden, waren dort schon im Ansatz erkennbar, auch das gute Verhältnis zu Ost-Europa und deren humorvoll-zynischer Blick auf die Dinge. Irgendwann zwischen 1993 und 1995 sind diese Netzwerke dann auch tatsächlich Online gegangen. Übrigens, die Netzwerke, über die ich hier rede, entwickelten sich aus den Mailinglisten – es gibt natürlich auch andere Netzwerke.

Ist es nicht eigenartig, dass die Faszination für die Vernetzung sich auf einer ganz anderen Ebene abspielt als die für den Inhalt? Von Netzwerken erwartet man alles Mögliche, aber wenig von den Inhalten.

Nein, weil die Inhalte zur Privatsphäre zu gehören scheinen, auch, wenn sie veröffentlicht werden. Das hat damit zu tun, dass Netzwerke in erster Linie soziale Strukturen sind, „Communities“, und sobald man ein Teil davon ist, ist das auch verbindlich. Informationen dagegen sind unverbindlich, zweite Garnitur, uninteressant, weil passiv. Praktisch, wenn man etwas sucht, aber viel mehr auch nicht, das ist das Tragische am Content. Es ist etwas Flüchtiges, niemand bezahlt dafür, sogar dann nicht, wenn die Qualität auf dem allerhöchsten Niveau ist. Das ist ein krasser Gegensatz zu Software, Design und Online-Services, in diesen Bereichen kann man mit etwas Glück für nichts viel Geld kassieren.

Trotzdem organisieren sich Netzwerke um bestimmte Themen herum.

Vom sozialen Standpunkt aus betrachtet, organisieren sich Netzwerke tatsächlich themenbezogen. Klar, wenn es nur um irgendwelchen Unsinn geht, bleibt man natürlich nicht lange. Innerhalb eines Netzwerkes gibt es eine austarierte Mischung aus Information, Plauderei und Debatte. Ein Netzwerk besteht nie ausschließlich aus nützlicher Information. Einige Leute erwarten das und verschwinden dann sofort wieder, die begreifen nicht, dass man an einer permanenten Konversation teilnimmt. Wenn man es zu einem Zeitpunkt nicht mehr interessant findet, wartet man ab und steigt am nächsten Tag wieder ein, wie beim Fernsehen, beim Wetter oder den Sternen. Die sind ja auch nicht immer dieselben, manchmal lässt man sich von ihnen leiten, ein anderes Mal jedoch nicht. Ein Netzwerk kennt eine Menge verschiedener Stadien. In der ersten Phase muss man die kritische Masse, meistens fünfzig bis hundert Menschen, zusammenbringen. Wenn die Konversation und der Informationsaustausch sinnvoll sein soll, dann muss es ein ausgewogenes Verhältnis von Teilnehmern geben, d. h. eine Hälfte kennt sich untereinander, die andere besteht aus Unbekannten. Außerdem muss es eine reelle Basis geben, die Leute müssen einen klar erkennbaren, wenn auch minimalen gemeinsamen Nenner haben, ein verbindendes Interesse oder eine ähnliche Identität. Bei der Idee von „Nettime“ geht es um die gemeinsame Deutung einer kritischen, vielfältigen „new media culture“ und zwar aus der Sicht verschiedener Disziplinen, Vorstellungen und von verschiedenen Orten aus. Die kritische Masse muss imstande sein, dem Netzwerk einen Mehrwert zu bieten, es muss einen Grund geben, warum man seine Zeit für dieses Netzwerk aufwenden möchte. Die Menschen müssen es im Alltag benutzen können, sonst wird daraus ein unverbindlicher „herrschaftsfreier Dialog“. Das ist das Problem von „Bürgernetzwerken“, wo man Gefahr läuft, dass jeder über alles seine Meinung loswerden will. Der reine Meinungsaustausch in einem Netzwerk ist eine stinklangweilige Angelegenheit. Die Leute schreiben ein oder zwei Sätze im Sinne von: „Da bin ich aber anderer Meinung.“ Das ist doch der Gipfel der Eintönigkeit. Natürlich bin ich anderer Meinung!
Man hört oft, dass bei der kritischen Masse das Verhältnis zwischen Leuten, die zusehen und denen, die etwas zu sagen haben, stimmen muss. Mich stört es nicht, dass eine große Anzahl von Menschen nur „Lurker“ sind, sich also passiv verhalten. Es gibt Boards, bei denen das kritisiert wird, die mit Nachdruck Wert darauf legen, dass sich die Leute beteiligen. Bei „Nettime“ habe ich mich für andere Teilnahmebedingungen eingesetzt, um nicht nur Leute aus einem elitären amerikanischen Zirkel und ein paar westeuropäischen Städten einzubeziehen, sondern auch Menschen aus anderen Teilen der Welt, z. B. Ost- und Südeuropa, Asien und Südamerika. Nicht um unbedingt größer werden zu wollen, sondern aus Neugier. Dabei stößt man auf ein typisch europäisches Problem: die Sprache. Es dauert nicht mehr allzu lange, dann reduziert sich der Anteil der Amerikaner im Internet auf die Hälfte, im Moment ist Englisch noch die gebräuchlichste Sprache im Net, gefolgt von Spanisch und Mandarin. Aber die globale Einheitskultur ist nun mal dominant, da sollten wir uns nichts vormachen. Könnte es ein radikal anderes Internet geben, aus einer anderen Kultur stammend, dem Islam beispielsweise? Und könnten solche Beiträge nicht über unsere eigenen hinauswachsen?
Nach der Phase des Zusammenbringens der kritischen Masse kommt die der Konsolidierung und des Wachstums. Auf der einen Seite bilden sich bestimmte Muster im Netzwerk, auf der anderen Seite tauchen auch immer wieder neue Namen auf. Die magische Grenze liegt erfahrungsgemäß bei ungefähr fünfhundert Teilnehmern, darüber hinaus artet es in Schwätzerei aus. Wie das genau vor sich geht, das kann man in dem Buch „Bolo ¢ bolo von P. M.“ nachlesen. Eine der wichtigsten Dinge in einem sich vergrößernden Netzwerk ist die Art und Weise der Moderation. Wenn jemand Unsinn schreibt, wer soll dann darauf reagieren? Man kann einen Moderator bestimmen, um die richtige Balance zwischen Geschwätz und Information zu finden, aber die Frage ist natürlich, ab welchem Zeitpunkt die Moderation einer Zensur gleichkommt. Es gibt sehr strenge Netzwerke, die ausschließlich sinnvolle Informationen dulden, das sind im eigentlichen Sinne eher Rundbriefe, denn man kann nicht aktiv daran teilnehmen. Netzwerken ist eine gewisse Lockerheit immanent, und es sollte auch mal die Möglichkeit bestehen, dass sich die Leute Offline kennen lernen. In der Phase, in der sich die um 1995 gegründeten Netzwerke im Augenblick befinden, arbeiten die Teilnehmer eher direkt miteinander, als dass sie „network“ betreiben. Sie befinden sich, z. B. fällt auch V2 darunter, eindeutig in der Phase der Konsolidierung.

Wie schätzt Du die Bedeutung von Aktivisten und Künstlern bei der Entwicklung des Internet und möglichen Nachfolgern ein?

Gering, aber darum geht es auch gar nicht. Einer der wichtigen Aspekte der europäischen Sichtweise auf das Internet und andere Computernetzwerke ist der, dass nicht jeder damit einverstanden ist, dass der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ohne weiteres vor einer wie auch immer gearteten Globalisierung kapituliert. Der Staat hat eine stimulierende und konstituierende Rolle bei der Entwicklung des Internet und der neuen Medienkultur gespielt. Wer finanziert denn ein Projekt wie V2? Das ist der Staat, nicht etwa Philips oder KPN. Es ist von großer Bedeutung, dass auch Menschen, die nicht unbedingt Geld verdienen wollen, die Möglichkeit haben, diese Technologie zu nutzen. Nicht jeder will eine eigene Firma gründen, und dabei spreche ich immerhin von der Mehrheit der Bevölkerung. Die Mehrheit darf man nicht auf diesen einen Aspekt reduzieren: Konsument zu sein. Die Rolle der Künstler (und anderer) sehe ich darin, dass sie auf dem Gebiet der Software und Schnittstellen phantasievolle Möglichkeiten schaffen, um eine Teilnahme großer Bevölkerungsgruppen zu erreichen.
In Europa hält man an der Vorstellung fest, dass noch andere Netzwerkarchitekturen sowohl denkbar als auch realisierbar sind. Ob das in Zukunft tatsächlich umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Das wäre ja nicht das erste Mal, das in Europa etwas an mangelnder Durchsetzung scheitert. Eine andere Möglichkeit besteht in „Open-Source“, d. h., dass man prinzipiell zwar Geld mit der eigenen Arbeit verdienen darf, aber die Tools und Plattformen für jeden frei zugänglich sind. Software wird als Wissen verstanden, das man mit anderen teilt. Linux beispielsweise basiert auf diesem Prinzip, aber es wird auch auf kulturellem Gebiet immer populärer. Europa hat in dieser Beziehung allerdings Nachholbedarf, mit der Konsequenz, dass die Definitionen, nach denen sich Software und Schnittstellen richten, nicht hier bestimmt werden. Eine zusätzliche Gefahr besteht darin, aus allem ein Museum machen zu wollen, denn sobald etwas zur Kunst erklärt wird, ist es tot. Was wir mit den Mailinglisten bei „Nettime“ wollen, ist einen Ort zu schaffen, an dem sich Menschen mit verschiedenen Ideen über Interfaces, Steuerungssysteme und Netzwerkarchitekturen austauschen können, auch wenn diese Diskussion im Laufe der Jahre eine immer stärkere Betonung der ökonomischen Komponente aufweist. Im Moment geht es um Fragen wie: Muss jedes künstlerische Projekt gleich kommerziell werden? Kann man nicht nach Feierabend einfach das machen, wozu man immer schon Lust hatte? Es bleibt die Frage, welche Rolle die elektronische Kunst bei diesen Entwicklungen spielen kann. Manchmal meint man einen gewissen Einfluss zu spüren, wenn, wie z. B. in Frankreich,   plötzlich eine andere Netzwerkkultur zu entstehen scheint. Aber im Grunde bin ich der Auffassung, dass der Beitrag von Künstlern und Aktivisten minimal ist. Sie bleiben marginale Gestalten mit einem problematischen Verhältnis zur IT-Welt. Realistisch betrachtet sind „wir“ nur zu Besuch in der Welt der Programmierer und Ingenieure, die sich, unter der Leitung von Geschäftsleuten, mit völlig anderen Dingen beschäftigen. Heutzutage sind es Telefongesellschaften wie Nortel, die uns in ihrer Werbung die Frage stellen: „What do you want the Internet to be?“ Diese Frage hätte viel eindringlicher von ganz anderer Seite kommen müssen. Wir? Kann von einem „Wir“ überhaupt noch die Rede sein und hat es das jemals gegeben? Ist das Internet der richtige Platz für strategisches Handeln oder will jeder nur für sich sein? Das ist eine typische Netzwerk-Frage.