Next Five Minutes: Konferenzbericht

Taktische Medientreff in Amsterdam

Meine erste elektronische Flaschenpost kommt aus Amsterdam, meiner Heimatstadt, wo gerade das vierte Taktische MedienfestivalNext Five Minutes (www.n5m.org) zu Ende ging. Die Stimmung war heiter bis nachdenklich, aber nicht melancholisch, wie man es unter “Cyberveteranen” hätte erwarten können. Ich war angereist um mein neues Buch My First Recession zu presentieren. Neue Generationen sind hinzugestoßen; die Mehrheit der etwa 1 000 Teilnehmer kannte ich nicht. Nach wie vor rast die Weltgeschichte voran, und die versammelten Medienmacher hatten viel zu berichten und noch viel mehr vor. Die Themen dieses Jahres reichten von der “Rückkehr des Publikums” über “Zutiefst Lokal” bis zu “tactics of appropriation”.Diskutiert wurden unter anderem die Webarchiv-Architektur, die Notwendigkeit der Vielsprachigkeit und neue Techniken für   politischer Kartographie.

Als wir Anfang 1993 das erste Festival in Paradiso veranstalteten, stand das Ereignis unter dem Eindruck des Mauerfalls sowie des Kriegs in Jugoslawien und war geprägt vom neu aufkommenden Videoaktivismus innerhalb und außerhalb der Kunst. Der Begriff “taktisches Fernsehen” wurde damals in die Welt gesetzt, war aber noch nicht richtig durchdacht.

Ein Festival über neue Medien, Aktivismus und Kunst zuwege zu bringen, das alle zwei Jahre oder gar jährlich stattfinden sollte, bot sich kaum an. Dafür waren die Verbindungen unter den Organisatoren und die tragenden Institutionen zu locker, zu problematisch. Auch in Amsterdam sind politisch motivierte Veranstaltungen nur bis zu einen gewissen Grade in den Kulturbetrieb zu integrieren. Es war auch “taktisch” nicht gerade klug, neben Dutzenden anderer Medienfestivals ein weiteres jährlich abhalten zu wollen. Deswegen gibt es bis jetzt noch immer kein festes N5M-Büro und keinen N5M-Verein. Die Festivalorganisation bildet sich jeweils ein Jahr vor dem Event und verschwindet danach wieder.

Ich habe mal jemanden Carl Schmitt zitieren hören, der behauptete, jeder Begriff sei ein Übergriff. Das kann man von den “taktischen Medien” nun wirklich nicht sagen, obwohl der Begriff sich ja richtig militärisch anhört. Anfang 1996, inmitten des Internethypes, fand sich nach drei Jahren Funkstille die zweite N5M-Crew zusammen. Die Stimmung unter den Teilnehmern war euphorisch, weil die Pioniere ausnahmsweise die Geschichte im Rücken hatten und die lang erprobten Interfaces und Inhalte endlich ihr Publikum fanden – so glaubten wir damals jedenfalls. Es waren die Gründerjahre der Netzkritik und der Netzkunst. Auf den Festivalbannern prangte stolz der Begriff “Taktische Medien”. Weil viele fragten, was das zu bedeuten habe, setzten David Garcia und ich uns hin und verbreiteten im Internet, was wir darunter verstanden. Ein Begriff war geboren und machte sich bereit, leise und virenartig an Boden zu gewinnen, unabhängig von jeglicher Stimmungslage.

Bei taktischen Netzwerken handelt es sich um den imaginären Austausch von Konzepten, die sich gegenseitig überbieten und überlagern. Um notwendige Illusionen. Es sind Modelle und Gerüchte, die hier zirkulieren, Argumente und Erfahrungen, wie man kulturelle und politische Aktivitäten organisiert, Projektfinanzierungen erhält, eine Infrastruktur aufbaut und zum Funktionieren bringt und wie man informelle Vertrauensnetzwerke schafft, die das Leben in/im Babylon erträglich machen. Das macht die Magie von Next Five Minutes aus: nicht die Vorstellung fertiger Produkte, sondern das Vernetzen subversiver Kreativität.

Wiederum drei Jahre später, 1999, mitten in der Dotcommania, warNext Five Minutes ein Sammelsurium künftiger Projekte. Eine Woche vor Anfang des Kosovokriegs wurde auf ihr die Unterstützungskampagne für das Belgrader Radio B92 initiiert. Zudem war das Festival von 1999 eine von vielen Stationen, die zur Gründung von www.indymedia.org führten. Das Konzept des Zentrums für Unabhängige Medien (IMC) wurde bei den Auseinandersetzungen in Seattle im großen Stil ausprobiert und ist seitdem bei vielen Konflikten, von Prag bis Melbourne und Genua, hundertfach kopiert worden. Die Idee dabei ist die eines wilden, temporären Medienlabors, eines Kabelsalat-Tempels, in dem die angereisten Aktivisten-Reporter ihre Berichte verfassen, Videos schneiden oder Radioberichte anfertigen können.

Das N5M-Festival von 2003 bot eine erste Gelegenheit, auf die Indymedia-Erfahrungen zurückzublicken. Was in den neunziger Jahren eine Handvoll zerstreuter Webseiten war, ist heutzutage ein globales alternatives Nachrichtenportal. Kernpunkt der Diskussion auf dem Festival war die Frage, ob sich Indymedia als Marke etablieren könnte und was die möglichen Nachteile eines solchen zentralisierten Namens seien sowie der Umgang mit der Informationsflut, die das open publishing-System zur Folge habe.

Nach den spekulativen Anfangsjahren sind die “taktischen Medien” den Kinderschuhen entwachsen. Man betrachtet die zunehmende Vernetzung als ihr eigentliches Potential, auch wenn die allgemeine Stimmung eher in die Richtung geht, daß das Internet gut sein mag für die Datenübertragung auf langen Strecken, als lokales Medium aber eher dürftig funktioniere. Print und Radio seien viel besser in der Lage, Leute zu erreichen, heißt es. Das Netz sei nicht die Lösung für alles.

“Taktische Medien” mischen nach Belieben alte und neue Techniken und kümmern sich nicht um Plattformen oder Standards, die Bildauflösung oder ein bißchen Rauschen. Es wird keine Reinheit angestrebt. Andererseits ist die “Verschmutzung” des Bildes, des Klangs oder des Textes an sich   keine interessante Dekonstruktionsübung. Das Sample ist nicht der Ausdruck einer fragmentierten Welt, es ist das technologische Apriori aller Information. Kein Grund zur Besorgnis – oder zur Verherrlichung. “Taktisches” Material ist eher dokumentarisch als fiktiv. Die Welt ist verrückt genug. Es gibt wenig Gründe, sich für die Illusion zu entscheiden. Mit der Geschichte auf der Überholspur können Erzählungen an jeder Straßenecke aufgelesen werden.

ZZZZ
Neu in 2003 war die Entdeckung der Theorie. Empire, das Buch von Toni Negri und Michael Hardt, spielte eine bedeutsame Rolle. Eine Diskussion war dem multitude-Konzept gewidmet. Das Aufkommen der multitudes weist auf eine grundlegende Änderung sozialer Praxis hin. Alte Konzepte funktionieren nicht mehr. Diskutiert wurde die These, daß das Wort multitude, als Nachfolger der Worte “Masse” und “Proletariat”, die “Nichtrepräsentierbaren” sichtbar zu machen versuche und als neuer Kampfbegriff der “Rebellen gegen dasEmpire” einen neuen Mythos darstelle. Wichtiger Anknüpfungspunkt mit der Welt der “taktischen Medien” war die Annahme, daß diemultitudes nicht länger in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen. Konsensbildung ist demnach heute bloß eine einzige Tortur, und dieses “Demokratiedefizit” mache sich auch in der Netzkultur bemerkbar. Jenseits der Repräsentation gebe es erst einmal eine Wüste – kein Paradies. Es liege daher nahe, wieder auf alte Formen der Politik zurückzugreifen und die Niederlage des Netzes(?) einzugestehen, aber viele verweigerten diesen Schritt. Eine globale Demokratie sei eben nicht mit den Überresten des alten Regimes zu realisieren. Es sei daher vielleicht besser, den Konsenshorror auszuhalten, ihn teilweise zu ignorieren und neue informelle Machtstrukturen zu analysieren (wie zum Beispiel voluntocracy – die Macht der Freiwilligen).

“Die Revolution wird nicht organisiert,” Dies sind nicht die Worte chaotischer Anarchopunks oder Ökoravers, die zu einer spontanen Revolte jetzt sofort, heute abend, aufrufen. Die Krise der Organisation ist die Condition humaine im vernetzten Medienzeitalter. Und sie könnte ebensogut der Beginn einer neuen, offenen Verschwörung sein, die die sehr nahe vernetzte Zukunft antizipiert. Neue Organisationsformen, nicht mehr Partei, Bewegung oder Geschäft, auch kein Netzwerk aus Filialen (mit oder ohne Zentralen), können höchst unsichtbar und ohne primäre Ausrichtung auf Institutionalisierung agieren. Diese kleinen und informellen Gemeinschaften zerfallen leicht und gruppieren sich neu, um zu verhindern, auf eine spezifische Identität festgelegt zu werden.

Während des vierten N5M-Festivals fanden Vorbereitungen für den kommenden Weltgipfel der Informationsgesellschaft (WSIS) statt, der Anfang Dezember in Genf stattfinden wird (www.geneva03.org). Über Wochen konnten die daran beteiligten Medienaktivisten sich nicht einigen über das politische Programm für den parallel laufendencounter summit. Streitpunkt war die vorgeschlagene Verbindung von Migrations- und Kommunikationsfreiheit. Es reiche nicht, sich über den digital divide zu beklagen und den 90 Prozent nicht ans Netz Angeschlossenen der Erde eine schöne neue Welt zu versprechen, möglich gemacht durch Telekoms und Microsoft. Das würden die Regierungen, die auf diesem UN-Gipfel anwesend sein würden, eh tun, und alle wüßten, daß das nichts anderes als leere Worte seien. In der Kontroverse ging es nun um die strategische Frage, ob der große und komplexe Fragenkatalog an die Medien auf einen Slogan reduziert werden solle. Oft wird der sogenannten “Antiglobalisierungsbewegung” vorgeworfen, sie agiere bloß negativ/nehme bloß eine negative Haltung ein und was sie tue, sei nichts anders als touristisches Gipfelhopping. Der Vorschlag, der dazu von deutschen NoBorder-Aktivisten formuliert wurde, ist positiv und utopisch, gleichzeitig auch radikal pragmatisch. In ihm werden keine Rechte und kein Schutz gefordert. Was versucht wird ist den Neokonservativen den Monopol des Freiheitsbegriffes zu nehmen.

Was bleibt, ist die Begriffsfrage. “Taktische Medien” – was nun? Während der Abschlußplenarsitzung verkündeten einige gar den Tod der “taktischen Medien”. Warum sollten Medienmacher so frei und rhizomatisch herumtoben, wenn die Weltlage so ernst sei? Mit Sun Tze und Clausewitz in der Hand ist es einfach, den Begriff zu entkräften und die Abwesenheit einer Strategie zu beklagen. Es ist klar, daß “taktische Medien” experimenteller und ästhetischer Natur sind. Ihr spielerisches Manövrieren gefällt den Politstrategen nicht besonderes. Neue Medien sind aufgefordert, die Spielwiese zu verlassen. Was in der Tat fehlt, sind die großen Geschichten und Ideen, wie sie George Monbiot jüngst in seinem Buch The Age of Consent: A Manifesto for a New World Order für die global justice- undfairtrade-Bewegungen formuliert hat. Wo bleibt die globale Satellitencommons? Wann wird das Internet endlich den Händen US-amerikanischer Militärbehörden entrissen? Wer wäre in der Lage eine globale Kommunikationsordnung zu entwerfen? Es fällt schwer einzusehen, daß – trotz allem Hype und Hyperwachstum – die Netzwelt relativ jung und klein ist im Vergleich zu Themen wie Ökologie, Welthandel oder Feminismus. Große Sichtbarkeit besagt wenig über Reflexions- oder Politikfähigkeit der Beteiligten.

Medienaktivisten weltweit legen großen Wert auf die lokale Ebene. Auf der N5M4 wurde diese lokale Ebene von den Italienern mit ihrentelestreet-Projekten vertreten, von lokalen Piratenfernsehen, unterstützt von translokalen Internetfilmarchiven, und von Interface-Experimenten in den Slums von Delhi, koordiniert durch das Indische Zentrum für neue Medien Sarai. Aufmerken ließ   die leise Symbiose von Kunst und Aktivismus. Was vor zehn Jahren noch problematisch war und als Befreiung gefeiert wurde, ist jetzt Alltag. Es mag eine Ironie sein, daß es gerade Cyberaktivisten sind, die vor den großen Fragen der globalen Politik zurückscheuen. Statt dessen knüpfen sie lieber offene und dezentrale Netze von unten – eine Aktivität, die sowohl Politstrategen wie Medienkonzerne nicht besonders mögen. Sie reden lieber über Notwendigkeit und Verantwortung. Ob die Kritiker und Kulturmanager die kleinen Tätigkeiten “taktisch” nennen oder ob sie dieses Label mal wieder totgesagt haben, stört nur wenige. Die Mikrorevolution läßt sich von der Ordnung nicht verführen.