Rohrpost im Herbst

Oder das Schweigen der Medientheoretiker

Für Lettre International, November 2003 (ungekürzte Fassung)

“Nie ist das Leben angenehmer als im Niedergang, wenn die gebremste Vitalität mit der süßen Pflege seiner Traditionen kompensiert wird.” (Pascal Bruckner)

Anfang Oktober tobte auf Rohrpost, der “deutschsprachigen Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze,” eine raue Schlacht über Rausch und Zensur. Der zehntägigen Kleinkrieg könnte sehr wohl die hiesige Netzlage verkörpern. Die Diskussionsmuster während solcher online Streitigkeiten sind mittlerweile bekannt. Provokateure, im Netzjargon ‘trolls’ genannt, stellen die Toleranzgrenze der Teilnehmer auf die Probe, in dem sie hunderte von Mails voller Gelaber an offenen Foren schicken. In meinem jüngsten Buch My First Recession habe ich ein solches Trollendrama auf der Syndicateliste analysiert. Was mir beim Rohrpostfall auffiel, war die Abwesenheit die Zurückhaltung der Intellektuellen. Deutschland, wo sind deine begabte Medientheoretiker? Warum ist die kollektive Netzkompetenz nachwievor so gering, dass eine handvoll Gelangweilter ein, im Grunde interessantes, Kommunikationsprojekt in Geiselhaft nehmen, und potentiell zunichtemachen?

Ich fragte die Listbetreibern Florian Cramer, Tilman Baumgärtel und Mitbegründer Andreas Broeckmann nach der mangelnden Zivilcourage, solche trolls in den Griff zu bekommen. Warum sind 1500 Beteiligten nicht in der Lage, solche Übergriffe zu verhindern? Auseinandersetzungen um die Netzarchitektur könnten im Prinzip voller Ironie und in diskursivem Stil geführt werden. Leider aber besitzen trolls weder Argumente noch Witz. Der Auseinandersetzung fehlt jegliche Rethorik, und er wird von einer diffusen Frust dominiert, die rasch in verbalen Gewalt umschlägt. Die Netzkultur ist angeblich noch zu fragil, um solchen Aggressionswellen mit Gelassenheit zu begegnen. Kulturelite und akademische Führungskreise warten gespannt auf den determinierten Untergang des Netzes und sehen sich bestätigt im Kierkegaardschen Schicksalsglaube, demokratische Meuten brächten nur Unmengen an Datenschrott hervor, wenn ihnen die Freiheit gegeben wird zu kommunizieren. Die Moral der Geschichte wäre, Medien, ob alt oder neu, brauchen Betreuung von denen die wissen was gut fürs Volk ist. Ein Netz ohne celebrities führe nur zu unproduktiver Anarchie. Derartigen Streitigkeiten in den newsgroups, Listen und weblogs kommt daher eine symbolische Bedeutung zu, die weit über die Rohrpostepisode hinausgeht..

Im Herbst 2003 schien die gesamte Netzlage eh extrem. Weltweit wurden Emailboxen von Viren und Spam belagert. So verursachte z.B. das Sobig.F virus innerhalb eines Tages 200-300 E-Mails in der Rohrpost-Moderationsschlange. Kurz vor der Explosion hatte es auf Rohrpost noch eine lebendige Diskussion über den Niedergang der Onlinezeitschrift Telepolis gegeben, angefeuert von Florian Cramers Bemerkung, Telepolis sei zu einer “antiamerikanischen, paranoiden Polit-Postille” geworden. Ende der neunziger, während des Dotcomhypes, spielte Telepolis eine wichtige Rolle als Multiplikator von Diskursen über Netzkunst und -kultur, Hackerkultur und freies Wissen. Eigentümer Heise Verlag subventionierte freie Journalisten und Autoren, gerade aus dem Rohrpostumfeld. “Es ist auf jeden Fall eine Lücke entstanden, die meines Wissens bisher nicht gefüllt worden ist,” so Vali Djordjevic auf Rohrpost.   “Es gibt kein deutsches Online-Magazin, daß kompetent und lesbar über Netz- und Medienkultur schreibt. Mir fehlt das in meiner täglichen Lektüre.“

Rohrpost als freies Netzforum habe das Telepolisloch aber nicht gefüllt. Netzjournalist Tilman Baumgärtel liefert dafür eine mögliche Erklärung: “Ich habe keine Zeit, unbezahlt Weblogs zu führen oder mich ununterbrochen auf Mailinglisten zu äußern, ich muss einfach Geld verdienen, und das ist z.Z. nicht leicht, wenn man auf solche Themen wie ich spezialisiert ist. An längere Texte ohne Bezahlung ist schlichtweg nicht zu denken.” Essays, Interviews und substantielle Diskussionsbeiträge erscheinen nur sporadisch. Rohrpostbeiträge bestehen hauptsächlich aus Ankündigungen für Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen, Parties und neue Webprojekte. Interessanter Vergleich wäre hier die Oekonuxliste, wo seit vier Jahren hauptsächlich männliche Programmierer linker Herkunft tüchtig über freie Software als Gesellschaftsmodell diskutieren (www.oekonux.org). Obwohl Deutsche Medientheorie und elektronische Kunst im internationalen Vergleich eine rege Produktion und hohes Niveau aufweisen, fehlt es an online Foren in denen neue Medienthematiken ohne Hemmungen durchdiskutiert werden.

Der Rohrpostaufruhr begann am ersten Oktober mit einem chat-artigen Austausch zwischen den trollen SaB, Braan, signifikant, Matze Schmidt und brsma an, die sich gegenseitig kurze Sätze zuschossen. In kurzer Zeit wurden Dutzende von emails an die gesamte Liste verschickt. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. “Ich habe mit diesem Mist, der in der Liste hier abläuft, nichts zu tun.” “Wer braucht eigentlich klugscheisserflamewars?” Joachim Budeck und andere forderten sofortiges Filtern durch die Moderatoren: “Rohrpost is wie Kaffee—schmeckt gefiltert einfach besser.” “Warum ist das was an Kommunikation hier gerade ist so ein Kindergarten?” fragte sich Fabian Koesters. Ein gewissen PhLo aber nervte die ganze Netiquette. “Nur weil sich auch Menschen tummeln, deren Leben nicht nur aus hochernster Theorie und wichtigen Netzkunst Projekten besteht, sondern auch ein paar—wenn auch nicht wirklich gute Clowns—finde ich den Ruf nach ‘harter Moderation’ nicht nur ein klein wenig übertrieben.” Die Empörungswelle wuchs trotzdem an. Strategie der trolls ist es, virtuelle Gemeinschaft zu spalten. Foren wie Rohrpost sind ein ideales Terrain für diejenigen, die live sozialen Experimente durchführen möchten. Hauptgewinner meldete sich: “Gewalt ist leider manchmal doch die beste Lösung für orientierungslose Kinder, die glauben auch noch ihre Mitmenschen zwangsweise über ihren Müll informieren zu müssen. Geht in die Chatrooms bei Bravo, Brigitte, Beate Uhse und Spiegel, ihr Ficker!” Maria Schmucker dagegen blieb nüchtern und schlug vor, Rohrpost könne vielleicht parallel einen Chat betreiben um die ganz spontanen Kommunktionsbedürfe zu befriedigen.” Die Kontroverse führte nicht zu einer Apotheose sondern flaute langsam ab, ohne eindeutige Lösung.

Wintermute beschreibt auf literarische Art, wie so eine Eskalation anfängt. “Der Depp wollte lustig sein, oder möglicherweise einfach nur so ein Depp. Jedenfalls musste er allen beweisen, dass er echt ein Depp war. Jedesmal wenn er’s allen bewies, dachten sich alle: Ja so ein Depp. Da reagiere ich mal lieber gar nicht. Hunderte Leute taten nichts, weil sie ja keine Deppen waren. Hunderten waren schlau genug, dem Deppen nicht die Aufmerksamkeit zu schenken, nach der er sich ganz offenbar doch sehr sehnte. Einer plonkte den Depp, da dachten alle: Na, jetzt ist der Depp geplonkt, jetzt wird’s wohl mal gut sein. Der Depp dachte aber, es wäre möglicherweise noch einer da draussen, der nicht begriffen haben könnte, was für ein kapitaler Depp er sei. Da schiss er den andern wieder kräftig in die Mailbox.”

Wie üblich verlor Rohrpost rasch Mitglieder. 1450 Mitglieder waren es mitte Oktober, 1600 noch im Sommer. Dbrinckmann fordert: “Raus mit den Deppen, ihr Basisdemokraten! Toleranz hat bei Dummköpfen noch nie was genützt und kleinen Kindern muss man eben mal den Hintern versohlen.” Moderator Timan Baumgärtel reagierte folgendermaßen: “Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft unsere dreieinhalb hauptberuflichen Rohrpost-Deppen nun schon versucht haben, die Liste zuzumüllen und sich dann als Opfer von Zensur darzustellen, wenn andere davon genervt waren und das geaeussert haben.” Nachdem signifikat Tilman als Arschloch bezeichnet hatte trieb die Liste weiter ab. Stephan Huber schickte die alte Netzweisheit herum, man solle doch bitte nicht die ‘trolls’ füttern. Den troll SaB, der unter verschienende Namen operierte, aber machte einfach weiter: “Frieden erst wenn Pillerman blutend am Boden liegend ausgezählt ist!” Verzweifelt über die Ohnmacht schreibt einer “Sab und ultanerd sind vom Tatbestand des Nervens zur Beleidigung und sogar—im Fall von sab—auch der persönlichen und listenöffentlichen Diffamierung übergegangen. Wenn das nicht Grund genug ist, jemanden von der Liste auszutragen, dann weiss ich auch nicht.” Aber nichts passierte. Susanne Schmidt schlug vor, Benutzern sollten doch bitte selbst die trolls wegfiltern: “Wozu moderieren, wenn ich das selbst wegfiltern kann? Eine Moderation überlässt dem Moderator, wer rauszufiltern ist. Mein eigener Filter filtert, was ICH will. Das kann jeder Emailclient.”

Tilman Baumgärtel klärt die Liste über das Identitätsspiel eines gewissen Guido Braun auf, der gleichzeitig als signifikant und Ultranet auftaucht. “Braun hat sich als zwei Adressen eingetragen und antwortet auf sich selbst. Urkomisch, nicht? Den Namen Guido Braun sollte man sich also unbedingt merken, wenn man auf hochkarätiges Internet-Entertainment steht.” Marian Bichler interpretiert Guido Braun als “fröhlicher Schizo, wo der eine Teil nichts weiß von der Existenz des anderen Vergnügen wäre allerdings größer, wenn die erregten Gemüter ihre stumpfen Klingenkämpfe durch pure Lust auf wilde Konversation und sprachliche Extase aufpolierten.”

Gisela Müller stellt den Schlagabtausch in einen grösseren medientheoretischen Zusammenhang: “Hier zählt jedes Tor, egal wer es schießt. Eigen/fremd, das gibts nicht bei dem Spiel. Die Regeln sind ziemlich schwer durchschaubar, wahrscheinlich gar nicht. Schiedsrichter gibts auch keine. Wer mitspielt und wer nicht mitspielt lässt sich mit Sicherheit nicht sagen. Auch die ZuschauerInnen sind IM Spiel. Netzkultur pur. Ein spiel im Flusserschen sinne: ‘der Mensch ist nur noch mit der Spielzeugseite des Apparats beschäftigt.’ und: ‘Das Apparateprogramm muss reich sein, sonst wäre das spiel bald aus.’—inklusive Risiko, daß der Apparat = die [rohrpost] kaputt geht beim spielen.”

Der Direktor des Medienfestivals transmediale, Andreas Broeckmann, nennt als einen Grund für das Durcheinander auf Rohrpost das gebrochene deutsche Verhältnis zu Macht- und Autoritätsfragen. “Diese ganze ‘antifaschistische Oedipuskiste’ in die die ‘jungs’ da ihre Nägel dreschen, ist durch die deutsche Mentalitätsgeschichte mit geprägt, und zwar sowohl in der unsicheren Reaktion der Moderatoren, als auch in der verbalen Gewalt der Pubertierenden.” Andreas Broeckmann hält die Rohrpostepisode nicht für repräsentativ bezüglich der Lage der deutschen Netzkultur und verweist auf erfolgreiche Netzprojekte wie Betacity, verybusy und Fluter. “Auch die Rohrpost sieht im detail ganz anders aus, da sind die Diskussionen über Linux, Copyright und Privatkopie durchaus lebendig. Die Abwesenheit eines ‘Master-Diskurses’ auf der Rohrpost bedeutet noch nicht, daß es einen Mangel an Reflexion gibt. Aber die Szene ist recht klein und man schottet sich immer noch, in guter alt-linker deutscher Tradition, lieber voneinander ab, als in einen konstruktiv-kontroversen Diskurs einzutreten.”

Was Tilman Baumgärtel an der ganzen Geschichte überrascht hat, “war die Rücksichtslosigkeit, mit der eine quasi-öffentliche Infrastruktur von zwei, drei Idioten als Plattform für ihre Selbstdarstellung und ihre Haßkampagnen instrumentalisiert wurde.” Trotzdem relativiert er die Rohrpostprobleme.“Das Phänomen, daß Leute, die zu viel Zeit oder persönliche Probleme haben, einer öffentlichen Infrastruktur wie eine Mailingliste nutzen, um andere zu nerven, ist ungefähr so alt wie das Internet.” Wie Andreas Broeckmann möchte er dafür warnen, das Verhalten von zwei, drei Deppen als symptomatisch für die ‘Deutsche Netzkultur’ zu betrachten. Tilman: “Diejenigen, die bei solchen Debatten mitmischen, fehlt die internationale Erfahrung mit solchen Konflikten wahrscheinlich, und darum finden sie sie auch so toll. Ich sehe mich als Rohrpost-Moderator selbst nicht als irgendwie hervorgehobene Person, aber bei solchen Gelegenheiten merke ich plötzlich, daß da Leute meinen, ein Hühnchen mit mir zu rupfen zu haben, von denen ich noch nie etwas gehoert habe.” Was in diesem Zusammenhang auch immer eine Rolle spielt, ist die Berlin-versus-den-Rest-der-Republik-Thematik. Tilman: “Offenbar glauben viele, dass wir in irgendeiner Form Berliner bevorzugen würden. Wenn ich mit Rohrpost-Abonnenten rede, habe ich immer das Gefühl, daß die denken, wir sind so eine Art Redaktion. Viele haben im Grunde bis heute das Prinzip einer Mailingliste nicht verstanden.”

Laut Rohrpostmitbetreiber und Literaturwissenschaftler Florian Cramer sind die meisten Abonennten keine Computer- und Netz-Profis, anders als z.B. hackerkulturell sozialisierte Diskutanten in Freie Software-Newsgroups, sondern stammen aus dem herkömmlichen Kulturbetrieb. Mit über 1500 Subskribenten sei die Liste so anonym geworden, daß sie Vandalismus anziehe, den komplexe (und daher anonymisierte) Sozialsysteme offenbar provozieren. Bleibt aber die Frage, warum deutsche Intellektuelle ihre Auseinandersetzungen nicht im Netz austragen. Weswegen ist das Allgemeinwissen über die Netzdynamik so gering? Cramer bestätigt, das Rohrpost ist in dieser Hinsicht ein bemerkenswerter Fall ist, da ihre Subskribenten-Liste sich teilweise sich liest wie eine Who’s Who der deutschsprachigen Medienkünste und –wissenschaften, die aber bisher keine eigenen Listenbeiträge schrieben. Diejenigen die es besser wissen sollten, schweigen und beklagen sich später über den plebeischen Charakter der Netzdialoge . Warum ist der Diskussionsbedarf angeblich so hoch im Land des Feuilletons, im Falle des Internet nicht vorhanden? Ein vorhandenes Publikum kann, mit fast zwanzig Millionen Deutschsprachigen Internetbenutzern, kaum noch als Argument benutzt werden. Florian Cramer fügt noch hinzu, dass das Niveau aller ihm bekannten nicht-anglophonen europäischen netzkulturellen Mailinglisten niedrig sei. In dem Sinne könnte man auch über eine Euronormalisierung reden. Im Falle der Netzkultur gäbe es endlich mal keinen deutschen Sonderweg.

Tilman Baumgärtel möchte sowieso das Konzept der ‘Netzkultur’ hinterfragen. “Das Netz hat seine Kraft als identitätstiftende Entität wohl weitgehen verloren, seit Internetzugang nicht mehr das Privileg einer kleinen Gruppe ist. Natürlich gibt es Leute, die sich fuer dieses ganze Themenfeld Internet jenseits von Langeweile-Chats-Am-Arbeitsplatz und Internet-Pornographie Interesse aufbringen, aber wer von denen würde sich als Teil einer ‘Netzkultur’ begreifen?” Hier rächt sich die traditionelle Herdenmentalität, die von der Popkultur durch Printmedien und das Fernsehen nur weiter verstärkt wird. Solange das Netz   von Promis als uncooles Medium betrachtet wird, ändere sich wenig. Selbst als Medium der Gegenöffentlichkeit wird das Internet als problematisch eingestuft. Viele Aktivitisten schauen derzeit weg vom Netz weil sie, trotz Indymedia, mit dem Chaos nicht klarkommen. Ist daher Qualität nur in geschlossenen bzw. privaten Foren zu haben? Den Streit wie offen/geschlossen die neue Öffentlichkeit sein sollte tobt noch und viele Cyberaktivisten empfinden Abschottung als Verlust. Infofiltern wird die hohe Kunst des einundzwanzigsten Jahrhundert.

Warum aber suchen Leute, sowohl von linker als rechter Seite, eine Bestätigung der These, offene Systeme generieren letzten Endes nur Rauschen? Florian Cramer zählt eine Vielzahl von Gründen auf. “Interessanten Leute kommunizieren sowieso bilingual, sind auf englischsprachigen Listen zuhause und haben an regionalen, nationalsprachlichen Foren nur einen nachgeordneten Bedarf. Gerade weil die international Foren, im Vergleich etwa zu Print-Publikationen, tolerant gegenüber nichtperfektem Englisch sind, machen sie nationalsprachliche Diskurse zweitrangig und somit potentiell auch zweitklassig.” Laut Cramer hält sich die Professorenschaft von den Niederungen öffentlicher Mailinglisten aus Standes-, aber auch aus Zeitgründen fern. Kommt hinzu, daß in Deutschland (und Europa) ein recht reges System akademischer Konferenzen existiert, das nicht wie in den USA oder England durch horrende Teilnahmegebühren abgeschottet ist.

Cramer weist darauf hin, das die akademischen Medienwissenschaften in Deutschland in den letzten zehn Jahren paradoxerweise immer vergangenheitsbezogener geworden sind. Das Paradigma des ‘Mediums’ wird dabei retrospektiv auf alle möglichen historische Kulturphänomene projiziert projeziert. Dies führe dazu, dass die Medientheoretiker sich nur selten mit der komplexen Gegenwart beschäftigen und sich stattdessen in die sichere Vergangenheit zurückziehen. Die Nachteile der Medienarcheologie für die Gegenwart ist sind derzeit kein Thema. Die poststrukturelle Obsession mit der Vergangenheit hat zum intellektuellen Aussteigertum geführt. Dieser Trend vermische sich mit altmodischen Publikationsritualen. Nach wie vor werden inflationär viele Dissertationen, Zeitschriften, Editionen und Sammelbände mit öffentlichen Subventionen produziert, aber ihre Vertriebsrechte unbegreiflicherweise exklusiv—und auch noch zum Nulltarif—an Buchverlage abgetreten. Cramer glaubt dass es hier schlicht um ein Generationsproblem dreht und es noch dauern wird, bis deutsche Intellektuelle selbstverständlich und technisch kompetent per Internet kommunizieren. Falls sie erwachen, finden sie ein verwandeltes Medium vor—in welcher Richtung, das wird derzeit bestimmt.

Rohrpost URL: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/