Schöne, neue Wearables. Oder: „da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

– Rainer Maria Rilke

Technische Innovationen neigen häufig dazu, gesellschaftliche Normen zu überholen, ihre Wirksamkeit und Gültigkeit still zu hinterfragen und etablierte Welt- und Selbstverständnisse schlicht zu verändern. Denn Technik selbst schlägt sich, mit Bruno Latour gesprochen, als „gehärtete“ Maxime und Tatsache, als ein (Arte-)Faktum nieder, das selbst neue Fakten schafft. Einmal eingeführt, entfaltet sie häufig eine gewisse Eigendynamik, sodass das, was einst neu, künstlich oder undenkbar schien, sukzessive in die Lebenswelt dringt, sich normalisiert – schließlich selbst zur Norm wird.

Das Silicon Valley hat diese Wirkmächtigkeit der Technik längst erkannt, gar zu einem ganz eigenen Geschäftsmodell erhoben. Stets zielt man auf „disruptive Innovationen“, erhöht und kapitalisiert die Geschwindigkeit des Fortschritts und lässt so alles Stehende und Analoge verdampfen. Nur logisch scheint es da, dass sich auch der Aggregatzustand seiner Vor- und Herstellungen beständig wandelt; dass, was zunächst als Möglichkeit, Potential oder befreiendes Ideal beworben wurde, eine neue Verbindlichkeit erfährt – dass, um es in puncto digital health konkret zu machen, Unternehmen wie Google in Real-Life-Experimenten nicht nur tausende Menschen mit Wearables ausstatten, um die Zukunft der Gesundheit neu zu ‚vermessen‘, sondern zuletzt auch smarte Krankenversicherungen ihre Leistungen an die Pflicht des Tragens einer Apple Watch oder eines anderen Tracking Devices koppeln.

Wellness-Panoptismus

Als Vorreiter dieser Entwicklung kann sich aktuell die US-amerikanische Versicherung John Hancock behaupten, die den Fitness-Tracker am Handgelenk im Rahmen ihres „Vitality“-Programms seit Ende 2018 für jeden Neukunden obligatorisch macht und die beständige Selbstvermessung in ein lukratives Geschäftsmodell übersetzt. Denn wer sich entschließt, „Vitality PLUS“-Mitglied zu werden und sich freizügig vermessen lässt (eine Apple Watch gibt es dafür schon ab 25 Dollar Zuzahlung, Googles Fitbit oder das Amazon Halo sind gratis), findet sich in einer ganz eigenen Form des „Überwachungskapitalismus“ wieder, das heißt in einer komplett punktierten, durchkommerzialisierten Umwelt, in der jeder Schritt via Smartwatch als „Aktivitätsring“ aufgezeichnet und wie jeder gesunde Einkauf in einem zentralen Gesundheitsscore – einer sanften Version des chinesischen Sozialkreditsystems – gespeichert wird.

An diesem durchdringenden System zur Förderung des „größten Glücks der größten Zahl“ hätte der utilitaristisch gesinnte Erfinder des „Geschäft[s] der Kontrolle“ und Vordenker disziplinarischer „Besserungsanstalten“, Jeremy Bentham, seine wahre Freude gehabt. Denn im Namen des gesünderen Lebens unterstehen auch in der versichernden Leistungsschau sämtliche Bereiche des Lebens einer ständigen Beobachtung, etablieren dabei eine Art dezentraleren, fast autonomen Wellness-Panoptismus, in dem durch allerlei Prämien eine angeleitete Selbstkontrolle forciert, die Smartwatch zu einem empfindsamen „Wächter“ des quantifizierten Selbst wird. Dass sich die Einzelne dabei immer mehr in präformierten, kommerziell abgesteckten Feldern der Handelsketten und Online-Dienste bewegt, sich stets urteilenden Rankingsystemen und behavioristischen Konditionierungen ausgesetzt weiß, markiert dann zwar einen fast polizeilichen Blick auf die eigene Existenz – wird aber als erwünschter Dienst am Kunden wahr- bzw. angenommen.

Idealistische Motive spielen in diesem Programm des – wie es in der Werbung zur Apple Watch hieß – „besseren Ichs“, freilich kaum eine Rolle. Es geht ganz materialistisch – und durchaus spieltheoretisch – um individuelle Vorteile, die über sanfte, aber in der Totalität massive Anreizsysteme massiert werden. Bei guten sportlichen Leistungen (500 Punkte müssen es mindestens sein) und den richtigen Ernährungsgewohnheiten können die Kosten der Versicherung dann um 15% schrumpfen, nach 10 Workouts darf via App sogar ein digitales „Glücksrad“ gedreht werden, sodass attraktive Gutscheinoptionen – etwa für den Apple App Store, Amazon Prime oder Walmart – jede Anstrengung versüßen.

Erreicht der Versicherte dann über 24 Monate seine Aktivitätsziele, behält er die Apple-Watch ohne weitere Zuzahlung. Wird er hingegen träge, bleiben nicht nur – no pain, no gain – allerlei Vergünstigungen und Spielereien aus; er ist auch verpflichtet, seine Smart Watch nachträglich abzubezahlen. Die Versicherung hofft, dass die Verlustaversion den Kunden in die richtige Richtung nudged und das Statussymbol Apple-Watch seine persuasive Wirkung voll entfaltet. Keine falsche Taktik, wie es scheint – bei Testläufen gaben 29% der TeilnehmerInnen an, dass die Smart Watch „einer der Hauptfaktoren“ sei, sich dem „Vitality-Programm“ anzuschließen. John Hancock hat also begriffen, dass es bei der angebotenen Leistung auch auf die feinen Unterschiede (Bourdieu) ankommt, und so kann sich der oder die Einzelne, gerade weil Gesundheit aus Firmensicht weniger ein individuelles Potenzial als ein Risiko bedeutet, beständig von den fremden Blicken geschmeichelt fühlen.

Für den Versicherer selbst besteht im beständigen Monitoring ein enormes Potential. Man hat erkannt, dass die permanente Aufzeichnung des Kundenverhaltens im Zusammenspiel mit gezielt gesetzten Anreizen ein effizientes Instrument ist, um ein neues Handeln zu etablieren, einen gesünderen Lebensstil – in der Branche nennt man das ‚behavioral underwriting‘ – zu initiieren und dies scheinbar so freiwillig wie selbstständig. Zwar wirken hier kaum die traditionellen Mechanismen von Überwachen und Strafen, doch das Regime angeleiteter (Selbst-)Kontrolle ist nicht frei von Disziplinierung, ist durchaus auf Sanktionen geeicht. Denn wer sich schlecht führt, es versäumt, sportlich-präventiv dem „besseren Ich“ nachzulaufen oder einfach nur zu selten gesunde Dinge konsumiert, kann damit rechnen, dass er alsbald mehr für seine Versicherung zahlen muss. So heißt es womöglich: Ein ungesundes, unproduktives, schlechteres Leben muss man sich leisten können.

Apple und Singapur: Jump and Run oder die datafizierte Biopolitik

Ein solch präventivgesellschaftliches Szenario scheint angesichts der neuesten Innovationen nicht allzu fern. Denn nimmt man die Punktestände oder Konsumgewohnheiten, und kombinierte sie, noch mit klinischen und anderen persönlichen Daten – von der Krankenhistorie bis zum Wohnort, den Hobbys oder Likes – ließen sich mit der Zeit immer bessere, hochprädiktive Risikoprofile für den Einzelnen erstellen, die in letzter Konsequenz dazu führen könnten, dass, wie die Medizinethikerin Alena Buyx erklärt, so mancher „kaum mehr versicherbar“ wäre. Während sich die Entwicklung in  Europa – häufig aufgrund eines rechtlich verbrieften Solidarprinzips – zögerlicher als in den USA vollzieht, erste Versicherungen ‚lediglich‘ wearable-basierte Bonusmodelle für ein „aktives Gesundheitsmanagement“ anbieten, ist man in Singapur noch einen Schritt weiter.

Screenshot der offiziellen “LumiHealth”-Seite: https://www.lumihealth.sg

Dort verkündetet das „Health Promotion Board“ (HPB) der Regierung im Herbst 2020, dass man im Rahmen des LumiHealth-Programms gesunde Aktivitäten und Verhaltensweisen der BürgerInnen so breitflächig wie tiefenwirksam fördern wolle – mit Unterstützung der Apple Watch. Als Teil der Smart Nation Initiative zielt die Kooperation im Modus des Private-Public-Partnerships darauf, auf Basis individueller Vitalwerte für die BürgerInnen Trainingsprogramme zu entwickeln, um diese über attraktive Anreize – u.a. Belohnungen im Wert von bis zu 380 Singapur-Dollar – zu einem gesünderen Lebensstil zu animieren – was in Singapur bedeutet, die Gesundheit selbst als Jump-and-Run-Spiel zu verstehen: „Innerhalb der App“, so heißt es dann bei Apple,

„begeben sich die Anwender mit einem freundlichen intergalaktischen Forscher auf die Reise durch unterschiedliche Welten, der sie durch Aufgaben führt, die auf Alter, Geschlecht und Gewicht abgestimmt sind. Dazu gehören wöchentliche Aktivitätsziele, die nicht nur durch Gehen, sondern auch durch Schwimmen, Yoga und andere Aktivitäten erreicht werden können. LumiHealth erinnert die Nutzer auch daran, Gesundheitsscreenings und Impfungen durchführen zu lassen. Darüber hinaus motiviert die App an Herausforderungen teilzunehmen, die darauf abzielen, Schlafgewohnheiten und Achtsamkeit zu verbessern und fördert eine bessere Auswahl an Lebensmitteln.“

Obgleich die individuellen, teils intimen Daten – von der Aktivität über die Ernährung bis zur Schlafhygiene – mit dem HPB ‚geteilt‘, d.h. in nationalen Datenbanken gespeichert werden und Teilnehmende auf dieser Basis permanent externe „Gesundheitsratschläge und Nudges“ erhalten, wird das Programm als Teil der köperbewusster Selbstermächtigung, der individuellen Befreiung verkauft. Überwachung soll hier kein negatives Potential, sondern Teil des spielerischen Angebots sein; soll nicht als Bug, sondern als Feature in der gamifizierten Umwelt von LumiHealth gelten. In den Worten Heng Swee Keats, Singapore’s Deputy Prime Minister:

„This partnership between Singapore and Apple will enable Singaporeans to lead healthier lives, but equally important, it will contribute valuable insights to improving the health of people all over the world.“

Screenshot der offiziellen “LumiHealth”-Seite: https://www.lumihealth.sg

Ein vormals quantifiziertes Selbst oder „besseres Ich“ wird, das scheint spätestens hier klar, immer konsequenter in ein quantifiziertes Kollektiv, ein gesünderes Wir übersetzt.Was dann als freiwilliger Service im Zeichen des Empowerments gelabelt ist, lässt sich durchaus folgerichtig und in einer Abwandlung Michel Foucaults als datafizierte Biopolitik entziffern – als ein Modus der Regierung, der das Leben und die Bewegung des (Gesellschafts-)Körpers selbst zum Kern seiner Bemühungen erklärt. So werden die Einzelnen im Wettlauf um eine bessere Gesundheit nicht nur in eine bunte Wunderwelt voller Überraschungen und motivierender Geister versetzt, sondern, mediiert über das smarte Device am Handgelenk, auch zu Komplizen eines porentieferen  Kontrollapparats, der, staatlich geprüft, auf die Verbesserung der sozialen Verhaltensweisen zielt. Poetischer gefasst: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ (Rilke)

Screenshot der offiziellen “LumiHealth”-Seite: https://www.lumihealth.sg

Der „Godfather der Wearables“ und das ‚real-time flu tracking‘

Wird Selbstvermessung zumeist mit den Werten der Autonomie, Transparenz, Emanzipation oder einer leistungsbewussten Selbstverwirklichung beworben, scheint die gruppendynamische, gesellschaftliche Realisierung dieser Ideale durchaus widersprüchlich zu sein. Die verführerische Anrufung eines fitteren und „besseren Ichs“ kann schnell Modi der Fremdkontrolle grundieren, Mechanismen der mal mehr, mal weniger sanften Überwachung. Schaut man auf die privaten oder auch staatlichen Motivationsprogramme, wird schließlich klar, dass digitale Technologien zwar nach wie vor, wie der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard erklärt, mit den „Freiheitsversprechen der Pionierjahre“ aufgeladen werden, dass sie aber nur noch selten, wie in der Frühphase des Internets, dem Spiel mit multiplen Identitäten dienen, sondern verstärkt darauf abzielen, das Subjekt zu profilieren, es „dingfest zu machen.“

In dieser Optik ist es dann auch kaum hinreichend, die Frage nach Freiheit und Kontrolle im digitalen Zeitalter allein mit Blick auf den Self-Tracker zu stellen, der vielleicht nichts zu verbergen hat und ganz selbst- bzw. vorteilsbewusst der eigenen Vermessungslust frönt. In dem Moment, in dem die Schnittstellen der Digitalität das Zwischenmenschliche, und damit kein isoliertes Ich, sondern ein verbundenes Wir berühren; in dem Augenblick also, in dem das Selbst Teil der Funktion einer größeren Gemeinschaft, ihrer Ziele und Interessen wird, verschwimmen die Konturen der individuellen Freiheiten – zuweilen auch mit bestem Wissen und Gewissen.

Alex Pentland, MIT-Professor und bekannt als „Godfather der Wearables“ (The Verge), machte diese grenzüberschreitende Logik bereits Jahre vor der gegenwärtigen pandemischen Notsituation mit Blick auf das sogenannte „real-time flu tracking“ in seinem Bestseller Social Physics besonders anschaulich:

„Die Fähigkeit, Krankheiten wie die Grippe auf individueller Ebene zu tracken, böte uns echten Schutz gegen Pandemien, weil wir Schritte unternehmen könnten, um infizierte Menschen zu erreichen, noch bevor sie die Krankheit verbreiten. Das ‘real-time flu tracking’ würde funktionieren, indem man Informationen zweier Quellen miteinander verbindet: Erstens Daten über die Änderungen im Verhaltensmuster von Individuen […]; und zweitens Standortdaten, denn physische Interaktionen mit anderen bilden die Hauptmechanismen für die Ausbreitung ansteckender […] Krankheiten.”

Das über die permanente Datenerhebung via Wearable aufgezeichnete Wissen ließe sich darüber hinaus dazu verwenden, jedem Individuum eine ‚Krankheitswahrscheinlichkeit‘ zuzurechnen, sodass schließlich in Echtzeit Karten zu erstellen wären, in denen kranke Individuen besser erfasst werden, gesunde abgesteckte No-Go-Areas meiden könnten. Pentlands Ziel ist die Generalisierung „sozialer Effizienz“, letztlich eine „data-rich society“, in der die „Krankheitskontrolle“ über den Datenstrom Kliniken helfe, genug Medizin und Personal zur Einhegung bereitzustellen. Man könnte dieses Verfahren der Kartierung aber auch als einen Mechanismus beschreiben, der im Namen der Gesundheit die Dialektik von Freiheit und Kontrolle auf eine ganz neue Ebene hebt – um vom Update Benthamscher Sichtachsen ganz zu schweigen.

Screenshot der offiziellen “LumiHealth”-Seite: https://www.lumihealth.sg

Pentlands Ideen erinnern ziemlich unverhohlen an die Fantasien perfekter Steuerungen, an die vielbesungene machine à gouverner – und nicht ohne Grund gilt er als Hohepriester des Überwachungskapitalismus wie der „angewandten Utopistik“ (Zuboff). Doch sein Forschungsdesign fand zuletzt auch Anhänger, die sich jenseits von Silicon Valley Thinktanks oder dem MIT Media Lab bewegen und smarte Technologien für die medizinische Forschung einsetzen. Im Januar 2020, noch vor der Coronakrise, wurde etwa eine Studie im Journal „The Lancet Digital Health“ veröffentlicht, die nicht allein auf Bewegungs- bzw. Verhaltensdaten, sondern gleich auf die Vitalwerte von 200 000 Fitbit-Trägern zurückgriff. Über das Device konnten die Forscher des Scripps Research Institute Echtzeit-Daten (vom erhöhten Ruhepuls bis zum unruhigen Schlaf) erfassen, mit denen sich, so das Ergebnis der Studie, signifikant bessere Influenza-Prognosen erstellen ließen. Die Forscher blickten damals optimistisch in die Zukunft. Denn sofern Wearables wie die Apple Watch weitere Verbreitung fänden, hieß es, könnte die sensorbasierte Überwachung von Krankheitsdaten auch auf länderübergreifenden Level umgesetzt werden.

Im aktuellen, pandemischen Ausnahmezustand nahm es dann kaum Wunder, dass – Krisen sind nach Michel Foucault ja stets ein Laboratorium für die Konfiguration neuer (Herrschafts-)Technologien – die experimentelle Entwicklung neuen Rückenwind erhielt. Bereits im März 2020 wurden diverse, groß angelegte Untersuchungen gelauncht, die qua Wearable erforschen, wie Infektionen mit Covid19 weiträumig erfasst und Symptome frühzeitig erkannt werden können.Schnell legte Scripps mit „Detect“ eine Folgestudie auf, die den sensorischen Rahmen erweiterte – auch die Aktivität wird nun getrackt – und mit mehr als 35 000 ProbandInnen bereits Ende Oktober 2020 erste, für die Forscher positive Ergebnisse produzierte. Auch das Mount Sinai Health System veröffentlichte im Januar die Ergebnisse der sogenannten „Warrior-Watch-Study“, die über die aufgezeichnete Herzfrequenzvariabilität qua Apple Watch bis zu sieben Tage, bevor Symptome spürbar wurden, Infektionen feststellen konnte. Der Co-Autor der Studie, Zadi Fayad, erklärte dazu: „This technology allows us not only to track and predict health outcomes, but also to intervene in a timely and remote manner, which is essential during a pandemic that requires people to stay apart.“

Die ersten Ergebnisse erscheinen faszinierend und den Forschergeist geradezu zu beflügeln. Doch zuweilen bleibt die Machbarkeitsethik der Ingenieure und Wissenschaftler, die die Gesundheit immer häufiger an smarten Anwendungen koppeln, auch hinter den durchaus fragwürdigen Potentialen ihrer Technologien zurück: So wurde etwa Singapur 2020 lange Zeit für seine fortschrittlichen Entwicklungen in der digitalen Bekämpfung des Corona-Virus und die entwickelte Contact-Tracing-App TraceTogether – mittlerweile ergänzt durch ein Wearable-Token – gepriesen, die die personenbezogenen Daten (u.a. die Handynummer, National ID) erst dezentral erfasst, bei festgestellten Infektionen aber dem Gesundheitsministerium meldet, um im Anschuss Infektionsketten zu erkennen bzw. zu unterbrechen. Doch alsbald wurde auch die Kehrseite dieser Initiative sichtbar.

Denn dass der Service zunächst freiwillig war und im Laufe des Jahres doch obligatorisch wurde, dass die AGBs wie von Geisterhand geändert wurden, sodass die persönlichen Daten auch von anderen Behörden genutzt werden konnten, war schließlich so erstaunlich und doch erwartbar: Erstaunlich, weil die Regierung stets versprochen hatte, dass man die Anwendungen allein und ganz exklusiv für das biopolitische Contact-Tracing nutzen und nie das Vertrauen der BürgerInnen verspielen wollte. Und erwartbar, weil die Ansammlung persönlicher Daten und die flächendeckende Verbreitung der App wohl doch zu verlockend für Strafverfolgungsbehörden, den polizeilichen Blick im Sicherheitsdispositiv sind. Im offiziellen Statement war so dann auch immer weniger von Datenschutz denn – fast folgerichtig – von einer ganz neuen Ermächtigung die Rede: „The Singapore Police Force is empowered under the Criminal Procedure Code (CPC) to obtain any data, including TraceTogether data, for criminal investigations.“

Screenshot der offiziellen “LumiHealth”-Seite: https://www.lumihealth.sg

… Oder lieber nicht: Zur Neutralität der Technik

Spätestens vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass digitale Devices keine bloßen Alltagsgegenstände sind, die dienstbeflissen helfen, das Leben besser zu organisieren, den Körper zu formen oder die Gesundheit zu fördern; sie tragen verborgene Potentiale in sich, die fromme Versprechen und beste (Genesungs-)Wünsche zuweilen konterkarieren. Schon Herbert Marcuse erklärte, dass Technik eine Materialisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sei, dass „bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft […] nicht erst nachträglich und von außen der Technik oktroyiert [sind]“, sie vielmehr bereits in „die Konstruktion des technischen Apparats selbst“ eingehen. Der Technik sind ihre Entstehungsbedingungen, spezifische Welt- und Menschenbilder also stets inhärent, sodass sich ihre teleologischen Aus- wie multisensorischen Einsichten nicht nur immer weiter fortschreiben, sondern auch expansiv das Selbst- und Weltverhältnis formen. Jeder bonusaffine Self-Tracker trägt dann, ob gewollt oder nicht, zu Entwicklungen bei, die in erfassungslogischer Konsequenz sämtliche Schichten des Realen sondieren, maschinenleserlich integrieren und letztlich – und das ist ein entscheidender Wendepunkt – befähigen, auch das noch Unidentifizierte als solches zu markieren.

In diesem Nexus kann dann die technikphilosophische Einsicht, dass kein Mittel nur ein isoliertes Mittel, keine Smartwatch nur eine Smartwatch ist, sondern diese stets in Relationen, Interessen, Ziele und soziopolitische Kontexte, d.h. in dynamische Systeme eingebunden sind, neue Schlussfolgerungen eröffnen. Denn es ließe sich erkennen, dass eine bestimmte Technik eine bestimmte Nutzung nicht determiniert, aber vorstrukturiert; dass eine Technik, die jeden Schritt und Pulsschlag misst, vernetzt, speichert, verwertet und kontrolliert, die auf Erfassung des Individuums wie des Kollektivs zielt, spezifische Verhaltensmuster nahe und immer näher legt und damit ganz grundsätzlich, wie der Philosoph Günther Anders erklärte, „immer schon ein bestimmtes Verhältnis zwischen uns und den Mitmenschen, zwischen uns und den Dingen, zwischen den Dingen und uns voraussetzt oder ‚setzt‘.“ Technik ist, um ein bekanntes Bonmot zu paraphrasieren, weder gut noch schlecht, doch sie ist keineswegs neutral. Sie bietet einen Möglichkeitsraum, den man betreten kann, manchmal betreten sollte

oder lieber nicht:

“Nein, ich möchte mich lieber nicht verändern.”  – Bartleby, der Schreiber

 

 

Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski

 

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