Hintergrund

Dieser Text stellt die CPOV-Forschungsinitiative, die damit verbundene
Konferenzreihe sowie den geplanten Reader vor. Ziel ist es, aktuelle Diskussionen
über ‚Wikipedia’ zu mappen, zu hinterfragen und außerhalb der Wikimedia-Welt zu
initiieren.

Forschungsnetzwerk, Konferenzreihe, Reader

Organisiert vom Centre for Internet & Society (Bangalore, Indien) und dem Institute of Network Cultures (Amsterdam, Niederlande)

Wikipedia steht kurz davor die globale de-facto-Referenz dynamischen Wissens zu
werden. Die sichtbaren Auseinandersetzungen zwischen MeinungsführerInnen,
ProfessorInnen, Web 2.0 ‚Evangelisten’ und VerlegerInnen über Genauigkeit,
Anonymität, Vertrauen, Vandalismus und Expertise scheint dem Wachstum der
Wikipedia-Plattform und ihrer Nutzerschaft nur zuträglich zu sein. Aber was bedeutet
es eigentlich, wenn man davon redet, Wikipedia sei jetzt ‚Mainstream’?

Das beschleunigte Wachstum und der zunehmende Umfang von Wikipedia mit ihrer
universalen Vision stehen für sich: Die Google-Suchmaschine behandelt Wikipedia
bevorzugt, um Suchmaschinenoptimierer in die Flucht zu schlagen und Usern fruchtbare
Erfahrungen zu bieten. Zugleich hat Wikipedia ihre modernen Gegenstücke Britannica
und Encarta hinter sich gelassen. In Umfang und Breite nähert sich Wikipedia zudem
den Meilensteinen Naturalis Historia, Wen-hsien ta-ch’ eng und einem der Kernstücke
der Aufklärung – der Encyclopédie – an.

Wikipedia als mehrsprachige, digitale, kollaborative Plattform der Produktion
fluiden Wissens kann als das sichtbarste und erfolgreichste Beispiel der Übersetzung
der FLOSS (Free/Libre/Open Source Software)-Prinzipien in die ‚Mainstream-Kultur’
genannt werden. Diejenigen von uns, die an Pluralismus und die Möglichkeit einer
anderen Welt glauben, haben damit allen Grund, Wikipedia gegen die
‚geistigen-Eigentum-Maximalisten’ und BefürworterInnen proprietärer Modelle der
Wissensproduktion und -verbreitung zu verteidigen. Nichtsdestotrotz sollte eine
solche Verteidigung kritische Perspektiven beinhalten, die konkret an den sich
wandelnden Internetrealitäten sowie am dem sich ständig in-flux befindlichen
Wikipedia-Projekt selbst ansetzten.

Mittlerweile hat die Wikimedia Foundation den ersten Forscher eingestellt und
fördert die “Wikipedistik”- zu nennen ist in diesem Kontext etwa das “Wiki Project
on vandalism studies”. Kritische Wikipedia-Forschung muss daneben auch außerhalb der
Selbstreflexivität der Wikimedia Foundation und ihrer Community stattfinden. Was wir
brauchen, sind quantitative und qualitative Forschungen, von denen
Kulturwissenschaften, Kunst sowie Wikipedia-User profitieren können.

Als einer der größten, wenn nicht als größte Wissensreferenz unserer Zeit eröffnet
uns Wikipedia kritische Einblicke zum gegenwärtigen Status quo von
Wissen(sproduktion): Wie ist Wissen organisiert, wie funktioniert Wissen, welchen
Einfluss hat Wissen, was sind Produktionsstile, -mechanismen der Konfliktschlichtung
und Machterhaltung bzw. -wiederherstellung? Neue strategische und taktische
Operationsmodi von Wissen/Macht sind hier am Werk. Dabei bleibt das Konzept des
‚Freien’ (free and open) selbst mehrdeutig und ist Projektionsfläche für
durchschlagende Konzepte einerseits und die Maskierung agonistischer Konstellationen
andererseits.

Die ständige (Re-)Formulierung des Inklusiven als leitendes Wikipedia-Prinzip durch
die Wikipedia-Community kann als Erzählung oder Gründungsmythos gelesen werden. So
lassen sich ‚Schließungen’ – z.B. mit dem Profil der sog. ‚Wikipedianer’- weiß,
männlich, monokulturelle westliche Weltsicht – benennen. Die Frage der
(Nicht-)Vielfalt, die auch in Wikipedia-Diskussionen selbst gestellt wird, muss über
bestehende Stereotypen hinausgehend formuliert werden, da die Frage von
(Post-)Identität und Repräsentation nicht unbedingt über die diskursive Konstruktion
von ‚Inklusion’ aufgelöst werden kann. Das bedeutet, dass über in Widerstreit
stehende Wissenshistorien und -praxen hinausgedacht werden muss und eine Kultur des
Editierens nicht neben eine Kultur des Zuhörens/Lesens gestellt werden sollte.

Jede neue Technologie modifiziert die Bedingungen der Möglichkeit für
Wissen(sproduktion). Technologische Logiken und Wissen strukturierende und
organisierende Prinzipien greifen hier direkt einander. Sowohl Medium als auch
‚Message’ reflektieren Ideen des (organisierten) Netzwerkes, der Multitude oder der
Deleuzschen Maschine. Auf der Folie technologischer und normativer Bedingungen – die
verteilte Netzarchitektur, die Wiki Software Plattform, freie Lizenzen und der
FLOSS-Zeitgeist – konnte Wikipedia als die Enzyklopädie des Informationszeitalters
entstehen. Wikipedia folgt dabei dem aufklärerischen, enzyklopädischen Impuls des
sapere aude und transformiert ihn zugleich.

Die übergreifende Forschungsagenda ist entsprechend inter- und multidisziplinär
ausgerichtet: von der philosophischen, epistemologischen und theoretischen
Erforschung von Wissensartefakten über die Beleuchtung der Dimensionen kultureller
Produktion und sozialer Beziehungen bis hin zur empirischen Untersuchung des
spezifischen Phänomens ‚Wikipedia’. Gezielt sollen so Einsichten aus der
theoretischen Reflektion in anwendungsbezogene Forschung übersetzt werden und
umgekehrt.

Bislang wurden im Januar und März 2010 zwei Konferenzen in Amsterdam und Bangalore
veranstaltet. Weitere Konferenzen, z.B. in Deutschland, sind in Vorbereitung. Auch
ist ein Reader geplant, der Ergebnisse und Diskussionen über die verschiedenen
Themen (s.u.) bündeln wird. Von April bis September 2010 ist die redaktionelle
Erstellung des Readers angesetzt.

Themen:

  1. WikiTheorie
  2. Wikipedia und die Kritik an westlicher Wissensproduktion
  3. Geschichte der Enzyklopädien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
  4. WikiKunst
  5. Design: Interfaces für Diskussionen
  6. Kritik am Freien (open source, open content, open…)
  7. Globale Politik der Exklusion
  8. Wikipedia und Orte des Widerstands
  9. Wikipedia und Bildung
  10. WikipediaAnalytik und Software Studies

Produktionsdetails

Neben dem Aufbau eines Netzwerks kritischer Wikipediaforschung, das auf der Mailingliste und den Konferenzen bereits Räume des Austauschs gefunden hat, ist unser Ziel, verschiedene Materialien für einen Wikipedia-Forschungsreader zu sammeln und diesen Ende 2010/Anfang 2011 in der INC Reader Serie zu veröffentlichen.

Forschungs- und Redaktionsgruppe

Geert Lovink and Sabine Niederer (Amsterdam), Nathaniel Tkacz (Melbourne), Sunil Abraham und Nishant Shah (Bangalore), Johanna Niesyto (Siegen), Margreet Riphagen (Amsterdam), Juliana Brunello (Amsterdam), Serena Westra (Amsterdam).