Critical Point of View: Konferenz Bericht

Der Titel der Konferenz ‚Critical Point of View’ (CPoV) spielte auf eines der Grundprinzipien der Online-Enzyklopädie Wikipedia an: den Neutralen Standpunkt. Ziel der Konferenz war es, ForscherInnen, KünstlerInnen, WikipedianerInnen sowie MedienkritikerInnen zu versammeln, um das Projekt Wikipedia im Besonderen und digitale Wissens(re)produktion im Allgemeinen zu diskutieren: “It’s about Wikipedia and it’s not about Wikipedia”, sagte einer der Initiatoren bei der vorausgegangenen Konferenz ‚WikiWars’, die bereits im Januar 2010 in Bangalore stattgefunden hatte. Diese beiden Konferenzen, der CPoV-Blog und die dazugehörige Mailingliste stellen Räume zur Verfügung, in welchen kritische Wikipedia-Forschung angestoßen und sich mit Ergebnissen und Kommentaren auseinandergesetzt werden soll. Das Ziel der Initiative ist es, ein internationales Netzwerk der Wikipedia-Forschung aufzubauen.

Wikipedia ist mittlerweile die TOP 6 besuchte Website im Internet (vgl. Alexa.com) und bildet für viele InternetnutzerInnen den Ausgangspunkt für die Suche nach (neuem) Wissen. Da Wikipedia zu einer bedeutenden Plattform herangewachsen ist, versuchte die Konferenz zentrale Fragen im Feld der Wissensproduktion und -organisation zu stellen: Welche neuen Prozesse und Strukturen determinieren den (Nicht-) Zugang zu Wissen? Welche neuen Beziehungen entstehen zwischen Wikipedia und externen gesellschaftlichen Institutionen wie z.B. Schulen? Wie ist ‚agency’ innerhalb der Wikipedia verteilt? An zwei Tagen wurden in der Openbare Bibliothek Amsterdam in insgesamt sechs Sessions diese Fragen aufgegriffen: Wiki Theory, Encyclopedia Histories, WikiArt, Wikipedia Analytics, Designing Debate und Global Issues and Outlooks.

CPoV Wikipedia Conference

In der ersten Session Wiki Theory stand die Frage im Vordergrund, inwieweit Wikipedia auch kritische Einblicke in das bislang eher hochgefeierte Web 2.0 bietet. In seinem Vortrag präsentierte Ramón Reichert eine von Foucault inspirierte Perspektive auf Wikipedia. Reichert argumentierte, dass die neuen digitalen Strukturen der Vernetzung einerseits kollektive Beziehungen fördern, andererseits aber spezifische durch Techniken des Selbst gekennzeichnete Medienkulturen im Social Web entstehen würden. Auch in Wikipedia seien beide Trends zu beobachten, so dass es mit Foucault zu einer Untrennbarkeit von den Zielen der Macht und den Zielen des Wissens komme. Mathieu O’Neil fragte in seinem Beitrag nach dem ‚richtigen’ Ansatzpunkt von Kritik an Onlineprojekten wie Wikipedia. Im Netz und insbesondere in peer-to-peer-Netzwerken arbeite sich Kritik nicht an Begrifflichkeiten wie etwa Gender oder Klasse ab, sondern beginne mit der Analyse von Regeln und Entscheidungen. Wie in seinem Buch ‚Cyberchiefs’ beschrieb O’Neil Ordnungen der Rechtfertigung sowie das Entstehen von Autorität in anti-autoritären Projekten als eine Art onlinebasierte Stammesbürokratie, in der es zur Überlappung von Rollen und Personen sowie Souveränität und Charisma komme. In seinem Vortrag ordnete O’Neil verschiedene peer-to-peer-Projekte entlang der Achsen Souveränität und Charisma ein. Wenn man verstehen wolle, wie Wikipedia als ‚Stammesarbeit’ funktioniere, sehe man, dass insbesondere Charisma hier von großer Bedeutung sei. Charisma werde in der der Online-Enzyklopädie über Expertise und eigenen Formen der Glaubwürdigkeit wie etwa die Anzahl der Edits eines Users hergestellt. Fragen der Selbstregulation wurden auch von Jeanette Hoffmann adressiert, indem Wikipedia als emanzipatorisches Projekt betrachtet wurde. Auf die Terminologie von De Sousa Santos zurückgreifend, beschrieb sie einen Kreislauf von Regulation und Emanzipation, der viele ‚Freie Internetprojekte’ durchlaufen würden. Währen Regulation Ordnungen herstelle, ziele Emanzipation auf die Konstituierung ‚guter Ordnungen’. Selbstregulierung bedeute, so Hoffmann, die Ausbalancierung dieser beiden Säulen, welche durch die Berücksichtigung von beidem – Erfahrungen (Regulation) und Erwartungen (Emanzipation) – erreicht werden könne. Mit Blick auf das Projekt Wikipedia zielte Hoffmanns Kritik auf das Grundprinzip des Neutralen Standpunkts, welcher Regulation herstelle. Hoffmann plädierte jenseits eines ‚Entweder-Oder’ für eine Schwächung dieses Prinzips zugunsten pluralistischer Formen von Wissen. Gérad Wormser nahm die Auseinandersetzung mit Wikipedia schließlich zum Anlass, um Wertsysteme von Enzyklopädien aus historischer Perspektive darzustellen, welche für ihn eng mit den jeweilig vorherrschenden Weltvorstellungen verbunden sind bzw. waren: von der Ars Memoria über den Kantschen Transzendentalismus und der Hegelianschen Dialektik bis hin zur linguistischen Hermeneutik. Wikipedia stehe paradigmatisch für das gegenwärtige Jahrhundert, das einen soziologischen und instrumentellen Zugang zur Wissenschaft aufweise: Mit der Wikipedia komme ein neuer ‚Typus’ von Enzyklopädie zum Vorschein, wobei bestimmte Mechanismen wie die z.B. kollaboratives Arbeiten an einer Enzyklopädie als kontinuierliche Elemente beschrieben wurde. Die zentrale Frage sei, ob Wikipedia ein Medien- oder ein ‚editorielles’ Projekt werde: Wird Wikipedia zum reinen Gebrauchsgegenstand – wie z.B. auch das Fernsehen -oder hat es das Potenzial die Meinungen in den Köpfen der Menschen zu verändern?

Die zweite Session mit dem Titel Encyclopedia Histories schloss sich an den Vortrag von Gérad Wormser direkt an und setzte Wikipedia in Beziehung zu ihren historischen Vorgängern. Joseph Reagle stellte ahistorische Aspekte in der Geschichte der Enzyklopädien heraus und argumentierte, dass Enzyklopädien schon immer Ängste hervorgerufen haben bzw. hervorrufen. Mit Blick auf Wikipedia könnten die öffentlich geäußerten Befürchtungen und Ängste in folgende vier Bereiche zusammengefasst werden: Kollaborative Praxis (wie man zusammenarbeitet), universale Vision (die Vision breiteren Zugang und guten Willens), enzyklopädischer Impuls (der obsessive Charakter der VerfasserInnen) sowie technologische Inspiration (der Charakter von Wissen). Um die ahistorische Qualität der öffentlichen Diskussionen um Enzyklopädien vor dem Zusammenhang von Linearität und Technik freizulegen, bezog sich Reagle auf den Dokumentaristen Otlet, der bereit 1918 schrieb: “The aim is to detach what the book almagamates, to reduce all taht is complex to its elements and to devate a page [or index card] to each.” Auch auf Paul Otlet rekurrierend, präsentierte Charles van den Heuvel seine historischen Forschungen zu Interfaces und Protokollen bzw. zur Annotation und Visualisierung von Geschichte mit dem Ziel eine Anreicherung von Daten (data enrichment). Hier zeigte er vor allem Beispiele der ‘Encyclopedia Universalis Mundaneum’, aus denen man auch noch für das heutige Web 2.0 lernen könne. Otlet dachte die Enzyklopädie als ein Kartensystem und schuf folgendes (Farb-)Schema, dass man als Interface auch ins Netz transferieren könne: Ergänzungen, Analysen, Standpunkte/Meinungen sowie Beziehungen zu anderen Objekten. Wikipedia sei vor diesem Hintergrund noch viel zu sehr wie eine Papier-Enzyklopädie organsiert und würde die Netzmöglichkeiten der Vernetzung noch nicht voll ausschöpfen. So würde viel Wert auf das Editieren der Lemmata gelegt, die Versionsgeschichten seien dagegen nur schwer nachvollziehbar. Dan O’Sullivan beschrieb die Wikipedia als eine “community of practice” und verband dies mit der jeweiligen Organisation von Artefakten. Im Zentrum seines historischen Längsschnitts stand die Frage ‚Radikal oder konservativ?’. Bei Bacon’s Wissensbaum beginnend über die Einführung des alphabetischen Systems durch Diderot and D’Alembert führend diskutierte er schließlich die Wikipedia als radikal-konservatives Projekt: Durch die Digitalität (z.B. Hyperlinks) und die Diskussionsseiten, die eine radikale Aufladung des Wissensbegriffs mit dynamischen und pluralistischen Elementen erlauben, sei Wikipedia ein radikales Projekt; das ‚öffentliche Gesicht’ der Wikipedia – die Artikel selbst – wären hingegen jedoch als konservativ einzuordnen, da sie in erster Linie die Organisation einer mehrbändige Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts reflektieren würden. Alan Shapiro ging in seiner Kritik an Wikipedia noch weiter und bezeichnete die Online-Enzyklopädie in Anlehnung an Flauberts “Dictionnaire des Idées Reçues” als Wörterbuch der Klischees. Wie Flauberts Roman “Bouvard et Pécuchet” würde auch das “Dictionnaire des Idées Reçues” die Gratwanderung zwischen Dummheit und Intelligenz skizzieren. Aus der Sicht der Informatik sei Wikipedia eine konventionelle reduktionistische Datenbank, die zwar Intelligenz, aber keine Einsichten in Dummheit hervorbringen würde. Shapiros nüchterne Schlussfolgerung lautete: “Wikipedia is an unaware continuation of the ‚Enlightment’ projects that Flaubert so brilliantly mocked”. Am Beispiel des Artikels über Baudrillard deckte Shapiro die Paradoxien von Systematisierungen und Klassifizierungen auf: “They call Baudrillard a sociologist, a cultural theorist and a post-modernist. These are just old categories of knowledge; those are all categories we all know about because they have been around for a long time. But in fact what Baudrillard really did was inventing new fields of knowledge.”

Die Beziehungen zwischen Kunst(projekten) und Wikipedia WikiArt wurden in der dritten Session “WikiArt” thematisiert. Scott Kildall stellte das Projekt “Wikipedia Art” vor, dass er zusammen mit Nathaniel Stern initiiert hat. Wikipedia Art verstehe sich als kollaboratives Kunstprojekt, performativer Akt und als Intervention, die in Form einer Artikel-Seite der englischsprachigen Wikipedia den Begriff des kollaborativen Werks reflektieren sollte. Der Artikel wurde nach zirka 15 Stunden gelöscht und legte, so Kildall, die populistische Mythologie des Wikipedia-Projektes frei, während eines der Grundprinzipien der Online-Enzyklopädie – die Belegpflicht – in Anlehnung an J.L. Austin als performativer Akt inszeniert wurde. Wie Kildall präsentierte auch Hendrik-Jan Grievink ein eigenes Kunstprojekt: “Wiki Loves Art”. Hierbei bezog sich Grievink explizit auf das von Wikimedia Netherlands mitunterstützte, gleichnamige Projekt. Jenes Projekt rief dazu auf, Kunstwerke zu fotografieren und das Foto in einen Wettbewerb einzureichen. Ziel war es, freie Inhalte auf Flickr unter der Creative Commons Lizenz zu generieren. In seinem sich noch im Entstehungsprozess befindenden Buch dokumentiert Grievink einige der Bilder und ordnet sie in einem Index von A bis Z. Das Flickr-Kaleidoskop in Buchform zu bringen und somit eine eigene Quelle zu schaffen, sei neben der Reflektion Inhalt seines Projektes. Hinsichtlich der Wirkungskraft beider Projekte ist Grievink skeptisch: “Well, Wiki might love art, but there is a long road before art loves Wiki.” Patrick Lichty diskutierte schließlich Web 2.0- Onlineprojekte als kulturelle Frames und kuratorische Modelle, die traditionelle Machtbeziehungen problematisierten und führte Fragen von Sub- und Gegenkultur in die CPoV-Diskussion ein. Aus radikaler Perspektive sei die Wiki-Technologie eine anarchische Organisationsform und stelle neue Fragen: Verändern soziale Strukturen, die in solchen onlinebasierten Projekten entstehen, die Gesellschaft? Wenn ja, wie verändern sich dann Kunst und die Rolle/Idee des Kurators bzw. der Kuratorin, wenn sie einem Konsens unterworfen werden? Neben Wikipedia Art analysierte Lichty verschiedene Projekte wie z.B. 4chan.org oder die Encyclopedia Dramatica und zog den Schluss, dass auch in solchen Projekten hegemoniale Strukturen produziert würden, die nicht besser seien als die bestehenden Machtverhältnisse. Nichtsdestotrotz sprach er sich dafür aus, dass Kulturproduktion im Allgemeinen sich auf communiy-orientierte Social Web-Projekt zubewege und Kulturproduzenten offenlegten, wie Kultur durch Online-Plattformen geformt würde: “Most sites are currently ill prepared for dealing with more than the funny or familiar. A CPoV is needed for the formation of artistic creation and notions of curations.”

In der vierten Session “Wikipedia Analytics” stellte Felipe Ortega die zentralen Ergebnisse seiner quantitativen Studie vor, in der er die TOP-10 der Sprachversionen miteinander verglich. Ortega interessierte insbesondere die Frage der Nachhaltigkeit: Seit 2007 seien Tendenzen einer “Stabilisierung” in Bezug auf die Artikelproduktion zu beobachten. Seine Analyse zeigte, dass alle Artikel- und Diskussionsseiten der Sprachversionen einem Muster exponentiellen Wachstums folgen, obwohl die Anzahl der aktiv beitragenden Usern stark variiere. Erreicht also Wikipedia ein Reifestadium? Ortega erklärte, dass nach der Veröffentlichung seiner Studie, diese zentrale Frage oftmals in der Medienberichterstattung umgekehrt worden sei: “Some mass medie media tried to convey my results in a strange way. […] When I was writing the press release form y university I was using words such as ‚the number of edits per months is getting stable’.” Stuart Geiger fokussierte technopolitische Aspekte der Wikipedia. Nicht ‘Wer kontrolliert, sondern was kontrolliert Wikipedia?’ sei die Frage, die zu stellen sei. Bots, Tools und Kode würden die soziotechnische Ordnung Wikipedia konstituieren. Am Beispiel des HagermanBots (jetzt SignBot) illustrierte Geiger, wie Bots in Policies wie die die Signatur-Policy eingriffen: Der HagermanBot habe diese Policy unterstützt, indem er als ‚Polizei’ fungiert habe und automatisch jeden nicht signierten Diskussionsbeitrag kenntlich gemacht habe. Schließlich sei es zu einer Diskussion über Rechte, den Unterschieden zwischen Policies und Richtlinien sowie der Rolle von Bots in der Wikipedia gekommen. Die Lösung sei eine Opt-Out-Liste gewesen. Geiger zeigte, dass soziale Strukturen und technische Systeme miteinander in einer koproduktiven Beziehung stehen, die über das bekannte “Code is law” hinausgehen. In ähnlicher Weise verfolgte auch das Digital Methods Institute einen Ansatz, den man mit ‚Folge dem Medium’ zusammenfassen könnte. Esther Weltevrede und Erik Borra, Mitarbeiter des Institutes, präsentierten die Ergebnisse einer Kontroversen-Analyse. In dieser Studie versuchten sie Wissensproduktion in einem Latourschen Sinne zu mappen und verschiedene Positionen in einer Kontroverse mit Hilfe von Wiki-Analytics kenntlich zu machen. In einer Fallstudie zur Klimawandel-Debatte zeigten Weltevrede und Borra mit sogenannten ‚Hot Maps’ Veränderungen innerhalb des Diskursraumes der Wikipedia in einem zeitlichen Längsschnitt – z.B. anhand der Editierhäufigkeit. Auch nutzen sie Visualisierungssoftware, um das entsprechende Issue-Netzwerk in der Wikipedia abzubilden und Subthemen zu identifizieren. Ihre Fallstudie zeigte, dass Editoren zum Teil zu thematisch verwandten Artikeln abwanderten. Diese ‚Issue-Migranten’ wurde als Ausdehnung bzw. Verschiebung gedeutet. Neben Sperrungen seien Forking bzw. Abspaltung gängige Formen im Wikipedia-Konfliktmanagement bzw. würden Mechanismen des Neutralen Standpunktes darstellen. So würden Meinungen ‚neutralisiert’ und eine Kontroverse in kleine, vernetzte Teile gespalten, in der das Prinzip des Neutralen Standpunktes als Objektivität zweiten Grades zu deuten sei: “[A]n objectivity that does not seek to settle a controversy by reference to the facts but rather to expose partisanship and the knowledge claims articulated in it (Macospol 2007).” Auch Hans Varghese Mathews illustrierte, wie Tools an der Wiki(pedia)-Medienlogik orientiert werden können. Er schrieb für die Konferenz einen eignen Algorithmus, der es erlaubt, Usergruppen zu clustern, welche sich an der Produktion derselben Artikel beteiligten. So könnten neben User-Interessen auch Themenagenden von Konflikten sichtbar gemacht werden. Jenseits von Interpretationsleistungen bzw. mit einem Minimum an Setzungen durch ForscherInnen zu generieren sei es mit diesem Algorithmus möglich Daten zu generieren.

Lawrence Liang eröffnete die Session 5 “Designing Debate” mit der Frage nach der Macht von Wissen. Mit Blick auf die Geschichte der Printkultur und insbesondere der Geschichte des Buches entwarf Liang ein Spannungsgefüge von Autorität und Fluidität, um zu zeigen, dass dieses Spannungsgefüge nicht erst mit das Phänomen ‚Wikipedia’ entstanden sei. Auch das Buch sei nicht immer als zuverlässige und vertrauenswürdige Quelle betrachtet worden. Erst später sei Autorität, insbesondere durch bestimmte Standardisierungen im Design wie z.B. die Nennung des Verlegers, der Aufbau der Titelei und die Gestaltung des Covers hergestellt worden. Ursprünglich sei Autorität eine Frage des Vertrauens gewesen, da LeserInnen nicht die Originalquellen überprüfen konnten. Besondere Aufmerksamkeit lenkte Liang in diesem Zusammenhang auf die Idee der Annotation: Im Mittleralter habe der Besitzer eines Manuskriptes mit der Gebühr für das Copyright auch den Zugang zu einem einzigartigen Original mit Annotationen, Kommentaren und Korrekturen gewährt: “Medival book owners and readers actively shaped the kind of text that they read.” Mit der Forderung nach De-Klassifizierung schloss Liang seinen Vortrag: “If encyclopedias are constantly about an attempt to classify and unify the world within the logic of taxonomies, it may equally be important to think about modes of de-classifying and uncategorizing and moving away from the centralizing to a certain kind of idea of the unsureness of knowledge.” Teemu Mikkonen analysierte am Beispiel der Diskussionsseite des Lemmas “Kosovo War” in der englischsprachigen Wikipedia Mechanismen und Grenzen der Konsensformierung. Insbesondere in solchen Konflikten wäre die Policy des Neutralen Standpunktes besonders gefordert, da die verschiedensten Positionen miteinander konfligieren würden. In einem Foucaultschen Rahmen arbeitete Mikkonen verschiedene Machtstrukturen und Positionen – wie etwa serbische, albanische oder pro/anti-Nato-Positionen – heraus. Mikkonen kam zu dem Schluss: “There is a huge problem how to verify the context of these unique experiences.” Die hier versteckte Annahme der Möglichkeit einer Nachprüfbarkeit und somit einer Richtigkeit einer Quelle wurde dagegen von seinem Vorredner Liang, aber auch von anderen DiskussionsteilnehmerInnen bestritten, die ein Modell pluralistischen und dynamischen Wissens befürworteten. Auch Andrew Famiglietti stellte die Policy des Neutralen Standpunkts in den Mittelpunkt seiner Präsentation. Er konfrontierte die Policy mit den Interpretationen, Praxen, Aushandlungen durch die NutzerInnen, indem er diese in das Rahmenkonzept der “moralischen Ökonomie” (E.P. Thompson) stellte. Thompson entwarf dieses Konzept, um die Aufstände (Brotpreis- und Nahrungsrebellionen) der Arbeiterinnen im 18. Jahrhundert nicht mit Termini der politischen Ökonomie zu erklären, sondern die Motive der ArbeiterInnen moralisch zu kodieren. Auf Wikipedia angewandt lautet seine Frage: Wie werden in der Wikipedia mit den knappen Ressourcen der freiwilligen Mitarbeit umgegangen? Selbstmanagement auf der Grundlage moralisch-ökonomischen Handelns, lautete Famigliettis Antwort. Am Beispiel des Artikels zum Gaza-Konflikt demonstrierte Famiglietti, wie das Design des Interface die Diskussion selbst beeinflusst und bemängelte insbesondere die Usability der Diskussionsseiten, die es nicht ermöglichen würden, schnell und einfach der Diskussion zu folgen. Elemente bzw. Interface-Symbole, die den ‚Neutralitätsprozess’ beeinflussen, seien der Artikeltitel, die Informationsbox zu Beginn eines Artikels sowie Interwiki-Links. Insbesondere die Aufsplitterung in verschiedene Standpunkte (point of views) und das Aufspalten des Artikels in kleinere Artikel wurde – im Gegensatz zum Beispiel von Weltevrede und Borra – von den NutzerInnen selbst nicht befürwortet, da Forking die Arbeitskraft teilen und doppelten Aufwand erzeugen würde. Die Diskussion über den Neutralen Standpunkt habe sich desweiteren weg von der Wahrheitsfrage hin zur Diskussion zuverlässiger Quellen bewegt: “In some cases Google and other search engines were employed to attempt to establish a consensus among sources.”

Auch Florian Cramer setzte seine Kritik an der Policy des Neutralen Strandpunktes an. Er wehrte sich gegen eine ausschließliche Interpretation des Grundprinzips als pragmatisches Werkzeug zur Konsenserzeugung und forderte eine Offenlegung der ideengeschichtlichen Wurzeln, die auch Jimmy Wales und Larry Sanger inspiriert hätten: “It is less widely known that Ayn Rand’s ‚Objectivism’, with its combined belief in free market capitalism and fully objective grasp of reality, provided the initial inspiration and philosophical foundation of the Wikipedia project.” Mit Rand und Hayek als Ideengeber für die Wikipedia-Gründer Wales und Sanger würden neoliberale Ideen am Beginn des Projektes stehen, so dass zu hinterfragen sei, ob man dies als idealistische Anfänge bezeichnen könne. Wikipedia fuße wie andere FLOSS (Free/Libre-Open Source Software)-Projekte auf einem Konsens, der auf Fiktion bzw. auf einen Mythos aufbaue, der sich nicht skalieren ließe. Daneben sei dieser fiktive Konsens auch auf der Design-Ebene offensichtlich: Das Wikipedia-Interface versuche Neutralität bzw. den Eindruck von Objektivität zu erzeugen, indem es wie eine einheitliche Informationsquelle auf den ersten Blick erscheine, die nicht die eigentliche Editierhistorie freilege. Wie die Idee von Objektivismus als geteilte Fiktion auf Interface-Ebene umgesetzt werde könne, illustriere hingegen die von Annemieke van der Hoek entwickelte Epicpedia (http://www.epicpedia.org).

In der Session 6 “Global Issues and Outlooks” wurden globale Machtstrukturen/-hierarchien, in welche Wikipedia eingebunden ist und welche diese mitkonstituiert kritisch diskutiert. So wies Mayo Fuster Morell auf die bedeutende Rolle des institutionellen (unterstützenden) Rückgrats der Wikipedia – der Wikimedia Foundation und die Wikimedia-Chapter – hin. Die globale Dimension erstrecke sich von der Bereitstellung der Plattform bis hin zum Rechtsbesitz des Logos und des PR-Materials, während die Community über die Rechte des Inhalts verfüge. Die Rolle der Foundation gestalte sich unterschiedlich; insgesamt identifizierte Fuster Morrell in ihrer Arbeit fünf unterschiedliche Rollen, die der Foundation zugeschrieben wurden: erwachsener Beschützer der Community; Führer/Wegweiser; weiteres Projekt, das an der Realisierung der Wikipedia-Mission arbeitet; Commuity-Tool ohne eigene Stimme; Vampir. Fuster Morrell wertete dies als Zeichen eines Dialoges, in dem ständig Macht neu ausgehandelt werde und die Machtverteilung im Fluss gehalten werde. Unter dem Gesichtspunkt globaler Governance-Modelle könne Wikipedia als Vorbild dienen: “The hybrid model of Wikipedia can be a model for other institutions of rethinking global institutions of the public and political in the 21st century. We have to remember that the issue is not how to criticize Wikipedia. They constitute a new form of providing public goods, we have to think about our responsibility to Wikipedia, to improve and learn from it, since it is so important in our lives.” Athina Karatzogianni situierte Wikipedia in dem weiteren Feld der ‘Peer-Production-Bewegungen’. Projekte wie Wikipedia seien eine Blaupause vorherrschender globaler Machtkämpfe. Das Potenzial Wikipedia liege nicht im Inhalt, radikal sei der Prozess der Wissensgenerierung. Karatzogianni kritisierte, dass Inhalte der Wikipedia nicht die Pluralität von Standpunkten freilegen würden: “The real threat and promise of Wikipedia and open knowledge production is not an alternative knowledge production, but the alternative to knowledge production.” Amit Basole stellte die indische Initiative “Vidya Ashram” sowie das dort entwickelte Konzept der “Knowledge Satyagraha” vor. In Anlehnung an die von Gandhi entwickelte Strategie “Satyagraha” des gewaltlosen Widerstrands verstehe sich “Knowledge Satyagraha” als Kampf für das Ideal der Gleichheit im Informationszeitalter. Wissen sollte in seinen pluralen Formen anerkannt werden und wissenschaftliches Wissen sollte sich nicht über oder neben andere Wissensformen stellen: “If Science attempts to separate itself from its source, as it has tried to do, it turns against the people. Historically we see that scientific knowledge has accorded to itself the status of the best or true knowledge.” Ziel sei es, verschiedene Akteure und Bewegungen von der FLOSS-Bewegung über die Bewegung, die sich gegen Patente stellt bis hin zur Studentenbewegung, die den Bologna-Prozess kritisiert, mit Kleinbauern, Handwerken und indigenen Bevölkerungsgruppen zu vernetzen. Maja van der Velden stellte schließlich ihre Forschungen vor, in denen sie untersuchte, wie Wissen einzelner Menschen oder Gruppen – wie z.B. von HeilerInnen aus ländlichen Gegenden Indiens – gesammelt, dokumentiert und mittels Datenbanken archiviert und verfügbar gemacht wurde: ‚Wie können Datenbanken den unterschiedlichen Art und Weisen ‚zu wissen’ gerecht werden?’, bildete ihre zentrale Untersuchungsfrage. Van der Velden präsentierte folgende drei Datenbanken, die in ihrem Interfacedesign unterschiedliche Features bereitstellen, um Wissen darzustellen: Das Murkurtu Archiv (http://www.mukurtuarchive.org/) basiert auf kollektivem Tagging und besitzt zugleich exklusive Login-Möglichkeiten; das Archiv Tami (http://www.cdu.edu.au/centres/ik/db_TAMI.html) kategorisiert Wissen ausschließlich nach Medientypus (BildISound/Video etc.) und jedes Objekt kann mit anderen Objekten vernetzt werden; das dritte Beispiel “Storyweaver” stelle eine Form performativen Mappings dar, in welchen verschiede Wissenskarten gemergt werden können. Alle drei Datenbanken verstünden Wissen als Performanz. Wikipedia hingegen würde solchen Wissensvorstellungen nicht gerecht werden, sondern ein singuläres Verständnis von Wissen transportieren. Van der Velden schlug vor diesem Hintergrund die Einführung einer Kontaktzone vor, in der verschiedene Wissensvorstellungen interagieren könnten: “I would propose the creation of a third space, a contact zone where different knowledges not clash, but interact and co-exist. As Donna Haraway calls them; ‘world-making entanglements’, which is the meaning I want to carry over to Wikipedia. If Wikipedia aims to provide sum of all knowledge to everyone, how can it provide dissenting knowledge claims?”

Englischsprachige Zusammenfassungen der Beiträge, Videos der Vorträge und Diskussionen sowie weitere Materialien finden sich auf dem Blog der CPoV-Initiative: networkcultures.org/cpov/ Hier können Sie sich in die CPoV-Mailingliste einschreiben und Ihre Fragen und Thesen diskutieren: networkcultures.org/cpov/mailinglist/.

Johanna Niesyto

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