After my talk at Re:publica I had a brief conversation with Anselm Lenz, journalist and founder of Haus Bartleby. Here’s the interview, published on the German newspaper junge Welt on the 10th of May.
»Der Startup-Kult ist eine religiöse Geschichte«
Forscher redet auf dem Kongress »re:publica« über Schattenseiten der Digitalwirtschaft. Ein Gespräch mit Silvio Lorusso
Silvio Lorusso lebt als Gestalter und Wissenschaftler in Rotterdam, forscht zum »Entreprecariat« unter anderem für das Institut für Netzwerkkulturen der Universität Amsterdam. Er veröffentlicht online unter kickended.com und networkcultures.org/entreprecariat
Wie arbeiten Sie, und was ist Ihr Thema auf diesem Kongress?
Ich habe eine Studie zum Thema des »Entreprecariat« (Kofferwort aus »Entrepreneurship« und »Prekariat«, jW) erarbeitet. Mir geht es um Unternehmerschaft als eine Attitüde, die sogenannten Kreativarbeitern, und nicht nur ihnen, übergestülpt wird. Zugleich arbeiten sie unter zunehmend prekarisierten Bedingungen. Das geht an die Existenz, denn es steht zum Beispiel sogar der Wegfall medizinischer Versorgung als Bedrohungsszenario im Raum.
Was sind die drastischsten Fälle?
2014 habe ich das Projekt »KickEnded« begonnen: Der Form nach eine Kopie von »Kickstarter«, dem bekannten Crowdfunding-Unternehmen, das Finanziers für Startup-Unternehmen sucht. Auf meiner Plattform zeige ich die Schattenseite dieser Art der Finanzierung. Ich stelle nämlich jene Projekte vor, die exakt null Dollar bekommen haben. Das sind mehr als 11.000. So gewann ich einen Eindruck davon, welche schiere Masse an Unsicherheiten, Ängsten und ungedeckten Grundbedürfnissen diese Art des Startup-Kults mit sich bringt. Ärmere Studierende versuchen, Crowdfunding zu verwenden, um Studiengebühren oder unerwartete medizinische Ausgaben zu finanzieren. Manche Familien können es sich nicht leisten, die Behandlung beispielsweise eines gebrochenen Arms zu bezahlen. Das treibt sie dann zu den Crowdfunding-Plattformen, in der Hoffnung, dass Leute ihnen das Geld geben.
Sie haben bei Ihrem Vortrag das Foto eines Internetexperten gezeigt, der in einem Zelt lebt. Was hat es damit auf sich?
Die Geschichte ist echt. Dieser Mann, David Hyde, hat ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in Genf absolviert. Das wurde nicht bezahlt. Viele machen so was trotzdem, weil sie sich damit einen Einstieg in eine Karriere und einen hochbezahlten Job versprechen. Die Lebenshaltungskosten in Genf sind absurd hoch. So kam er auf die Idee, dieses Paradox sichtbar zu machen: Er zog in ein Zelt und lebte dort, während er in der reichsten Stadt der Welt für die Vereinten Nationen arbeitete.
Warum hoffen so viele jüngere Internetunternehmer auf den Aufstieg?
Es gibt ganz klar einen enormen Druck und eine Menge Propaganda in den Medien. Die Leute werden zugemüllt mit Erfolgsgeschichten von Genies, die von einem Tag auf den anderen Millionäre oder Milliardäre werden. Abgesehen davon haben viele junge Menschen real gar keine anderen Aussichten. Ein Tagelöhnerjob ist nicht besonders faszinierend, und so suchen sie die Möglichkeit des »digitalen Aufstiegs«, trotz der geringen Erfolgschancen.
Weil man im »digitalen Markt« ist?
Ein wesentlicher Unterschied zur traditionellen Arbeit, beispielsweise in einer Fabrik, besteht in der Fragmentierung der Arbeit und damit der Schwierigkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wenn man gar keinen Zugriff mehr auf die wesentlichen Produktionsmittel hat, dann wird die Macht der Arbeiter zerschlagen. Aber wir sehen einige erste Streiks: Plattformen wie »Deliveroo« und »Foodora« (in Metropolen digital organisierte Lieferdienste aus Restaurants, jW berichtete) wurden bereits von den Arbeitern sabotiert. Es gibt also erste Ansätze, zumindest die Bedingungen in Frage zu stellen, die die digitale Wirtschaft den Leuten aufzwingt.
Carl Spitzweg hat 1839 seinen berühmten »armen Poeten« gemalt. Der sitzt mit einigen Bogen Papier in der Hand auf einer Matratze in einer kargen Dachkammer. Man sieht: Es regnet rein, es ist kalt. Würde heute statt des Papiers der Laptop auf den Knien zu sehen sein, und der Dichter wäre ein »Entrepreneur«?
Absolut, so wäre es! All diese Geschichten, die uns kolportiert werden, zeigen uns Leute, die in einer Garage als Computerschrauber begannen und dann Milliardäre wurden, weil sie nachts nicht schliefen, sondern arbeiteten, sich selbst ausbeuteten. Es geht gar nicht mehr nur um Künstler, es geht letztlich um alle jüngeren Leute. Die Idee wurde normalisiert, dass man leiden muss, um etwas abzubekommen. Der Startup-Kult ist letztlich eine religiöse Geschichte.
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